Bad Vilbel. „Die Zeit ist reif für neue Ideen“, sagt Andrea Ypsilanti (SPD). Und fügt hinzu: „So wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben.“ Auf Einladung der Arbeitsgemeinschaft „60 Plus“ der Bad Vilbeler SPD war die gebürtige Rüsselsheimerin am Freitagabend zu einem Vortrag ins City Hotel gekommen. Schon nach den ersten Worten wird ihren 60 Zuhörern im Saal klar, dass die einstige Ministerpräsidenten-Kandidatin nicht zum Smalltalk in die Quellenstadt gekommen ist.
Sie komme gern nach Bad Vilbel, sagte die Landtagsabgeordnete aus Nieder-Erlenbach. Sie hat das Geschehen auf der landespolitischen Bühne seit über einem Jahr von der dritten Reihe aus kritisch im Blick. Die Solidarität und das Einfühlungsvermögen der Vilbeler Genossen sei für sie in schwieriger Zeit eine große Hilfe gewesen. Und: „Ich komme zum Einkaufen oft samstagsvormittags nach Bad Vilbel. Ich bin gerne hier. In Bad Vilbel gibt es nette kleine Geschäfte, in denen man gut beraten wird und alles bekommt, was man braucht.“
Nach ihrem Einkaufsbummel trifft sie sich auf einen Espresso im Eiscafé Venezia mit Mitgliedern der AG „60 Plus“. Gesprächspartner sind unter anderem deren Vorsitzender Norbert Kühl und Ehrenstadtrat Helmut Lehr. Die Gespräche der Genossen drehen sich meist um kommunal-, landes- oder bundespolitische Themen sowie die um die Situation der SPD. Sie waren auch Thema ihres Vortrages „Solidarisches Handeln – Eine Chance für die Menschen“.
Ypsilanti wirbt für einen politischen und sozialen Aufbruch in eine solidarische Gesellschaft jenseits von Ellenbogenmentalität des real existierenden Neoliberalismus. Auf die Frage wie es weitergehen soll, sagte Andrea Ypsilanti: „Ich glaube, dass derzeit keine Partei eine Antwort auf alle Fragen geben kann.“ Der Vertrauensverlust der Bevölkerung in die politischen Parteien sei zurzeit riesengroß, bedauert die 52-Jährige. Gründe dafür sieht sie in der schwarz-gelben Bundesregierung: „Noch nie ist eine Koalition so schlecht in die Regierung gestartet wie diese“. Und schimpft: „Diese Regierung hat die Banken mit unserem Steuergeld gerettet, damit das Finanzsystem nicht zusammenbricht, die Banken sich sanieren und der Mittelstand Kredite bekommt. Die Kredite an den Mittelstand fließen nicht. Im letzten Jahr gab es so viele Pleiten wie schon lange nicht mehr.“ Dafür schütteten die Banker wieder fette Bezüge und Boni an ihre Top-Manager aus. Mitschuld an der Bankenkrise gab sie auch dem ehemaligem SPD-Finanzminister Peer Steinbrück. Mit Barack Obama rief sie den Bankern zu: „We want our money back.“
Das nächste Drama spiele sich im Gesundheitssystem ab. Dort gebe es wie auch im Energiebereich die meisten Lobbyisten. „Eine Änderung wird es mit diesem Gesundheitsminister nicht geben“, prophezeit Ypsilanti. „Ein Ackermann muss mehr zum Gesundheitssystem beitragen als der Pförtner der Deutschen Bank!“ Dafür gab es Bravo-Rufe aus den Reihen der Zuhörer.
„Die Debatte um Hartz IV ist unerträglich“, ruft Andrea Ypsilanti in den Saal. Und erntet Applaus. „Der Missbrauch bei allen Hartz-IV-Empfängern in Deutschland liegt bei 0,2 Prozent. Ich weiß nicht, ob Roland Koch und Guido Westerwelle kapiert haben, dass die Leute mit 358 Euro im ganzen Monat auskommen müssen.“ Rund 1,4 Millionen Menschen arbeiteten freiwillig in Jobs, in denen sie nicht mehr verdienten als ein Hartz-IV-Empfänger. „Und sie alle werden von Politikern pauschal verunglimpft. Am Mindestlohn führt kein Weg vorbei.“ Zum Bildungssystem merkte sie an: „Es ist eine Schande, wenn schlaue Kinder nach der vierten Klasse aussortiert werden, weil sie eine Teilschwäche haben!“ Mit Applaus signalisiert das Publikum Zustimmung. In Hessen stagniere die Bildungspolitik. In einer solidarischen Gesellschaft stehe Bildung aller Kinder ganz oben an.
In der Wirtschaft müsse bei einem sich immer mehr zurückziehenden Staat die Verteilung zwischen Ehrenamtsarbeit, die lukrativer werden sollte, Lohn- und Familienarbeit neu geregelt werden.
Doch auch Defizite in der SPD sprach Ypsilanti an. Zurzeit gebe es kein geschlossenes Konzept, dass eine Alternative zur derzeitigen Politik darstelle. Daher sei es wichtig, nicht nach Antworten auf tagespolitische Ereignisse zu suchen, sondern sich Zeit zu nehmen über Politikkonzepte zu diskutieren, wie das in dem von ihr gegründeten „Institut Solidarische Moderne“ geschehe. Dort werde fern von Tagespolitik über eine Vision für eine andere Gesellschaft diskutiert. Mit stehenden Ovationen und einem Blumenstrauß verabschiedeten Genossen und Gäste Andrea Ypsilanti.