Karben. Des Rätsels Lösung liegt manchmal näher als man denkt. Es braucht oft nur einen entscheidenden Hinweis. Den konnte die Wetterauer Zeitung Ende Mai ganz unverhofft geben. Bis dahin wusste niemand etwas über die Geschichte des alten Judenfriedhofs in Klein-Karben. Doch jetzt hat ein Ordner voller Dokumente das Fischen im Trüben beendet.
»Allem voran fehlen die Grabmale auf dem alten jüdischen Friedhof. Über einen langen Zeitraum scheinen Bäume ihre Positionen eingenommen zu haben. Im Mai steht das Gras dort hüfthoch, sodass auch der Gedenkstein am Eingangstor langsam zuwächst. In Klein-Karben selbst gibt es keine Zeitzeugen mehr, die über die Vorgänge an diesen Ort berichten könnten. Doch das allein rührt noch mehr den Forschergeist.« Das sind die einleitenden Worte Ende Mai in jener Zeitung in einem Bericht über den fast vergessenen jüdischen Friedhof in Klein-Karben.
Den Bericht hat Ursula Mahr gelesen und reagiert. Sie machte sich auf den Weg zu Hartmut Polzer, der die Recherche zum jüdischen Friedhof unterstützt. Sie gab sich als Enkelin des in dem Zeitungsbericht erwähnten Eisenbahners Heinrich Dietrich (»Hase-Dietrich«) aus Klein-Karben zu erkennen. Mitgebracht hatte sie eine ganze Akte über das Grundstück »Flur VIII, Nr. 7, israelitischer Friedhof«.
Daraus geht unmissverständlich hervor, dass Dietrich und seine Ehefrau Minna, geborene Fauerbach, das 2791 Quadratmeter große Gelände im Oktober 1939 käuflich erwarben. Der Kaufpreis, den die Eheleute zu zahlen hatten, betrug rund 745 Reichsmark. Davon wurden 140 Reichsmark als »Ausgleichsabgabe zugunsten des Reichs« eingezogen.
Eigentumsrecht wurde entzogen
Schon zwei Jahre zuvor war der jüdischen Religionsgemeinschaft Groß-Karben von der Ortsgemeinde Klein-Karben das Eigentumsrecht am Friedhof entzogen worden. Am 21. September 1937 wurde der Erwerb des Grundstückes vom Amtsgericht Vilbel im Grundbuch von Klein-Karben eingetragen.
»Der Kaufvertrag wird aber nicht zwischen dem Käufer und den vertretungsberechtigten Vorstandsmitgliedern abgeschlossen, sondern mit Josef Junker und weiteren Mitgliedern der jüdischen Gemeinde«, erklärt Polzer. »Da die jüdische Religionsgemeinschaft Groß-Karben als Verein bürgerlichen Rechts galt, hätte deshalb auch die spätere Beurkundung nicht erfolgen dürfen.« Am 10. März 1939 habe das Amtsgericht Vilbel dem neuen Eigentümer Dietrich schließlich mitgeteilt, dass das Grundstück in seinen Besitz übergegangen sei.
»Unserem Opa haben einige Leute unterstellt, dass er sich am Eigentum anderer bereichern wollte«, erinnern sich Ursula Mahr und ihr Bruder Gerd Dietrich. Solche Vorwürfe weisen sie zurück. Er habe auf dem Stück Land Futter für seine Hasen angebaut und verschiedene Obstbäume gepflanzt. Früher sei das Gelände nicht umzäunt und von allen Seiten zugänglich gewesen. Ringsherum waren Äcker. »Natürlich wusste er als alter Klein-Kärber um den früheren Zweck dieses Platzes«, räumt Dietrichs Enkeltochter ein.
Aufklären lässt sich jetzt auch das Geheimnis um die verschwundenen Grabsteine: Heinrich Dietrich selbst hat sie nach dem Grundstückserwerb an Ort und Stelle vergraben und anschließend Bäume darüber gepflanzt. Wo genau, ist nicht ganz klar. In der Mitte des Areals soll sich eine »recht große Vertiefung« befunden haben. Gerd Dietrich verortet die Steine jedoch eher am südlichen Ende. »Wenn ich früher dort das Gras gemäht habe, bin ich manchmal auf Steinplatten gestoßen«, sagt er.
Im April 1950 stellte das Amt für Vermögenskontrolle und Wiedergutmachung in Frankfurt am Main einen Antrag auf Rückgabe des Grundstücks. Mitentscheidend scheinen dabei die Angaben des jüdischen Immigranten Max Kulb aus Montevideo (Uruguay) gewesen zu sein, der in einem amtlichen Briefwechsel über die Vorgänge berichtete.
Rückgabe an jüdische Organisation
Fast vier Jahre später entschied das Landgericht Frankfurt am Main in einem Vergleich, dass der Klein-Karbener jüdische Friedhof an die Jewish Restitution Successor Organization (JRSO) zurückzugeben sei.
Heinrich Dietrich wurde die Nutzung an dem nicht mehr belegten Teil pachtweise überlassen. Das deckt sich mit den Aussagen seiner Nachkommen. »Bis in die 70er-Jahre hinein haben wir da oben immer das Obst gepflückt«, erzählt Ursula Mahr. Den Ordner mit dem Hinweis gebenden Schriftstücken hatte ihr Bruder über die ganzen Jahre verwahrt. »Es ist schön, dass wir jetzt zur Aufklärung beitragen konnten«, sagen die Geschwister.
»Wiedergutmachung«
Die sogenannte Wiedergutmachung stand nach 1945 im Vordergrund. Zu diesem Zweck gründete sich unter anderem in New York die Jewish Restitution Successor Organization aus verschiedenen jüdischen Organisationen. Sie kümmerte sich um die Rückgabe von jüdischem Besitztum, darunter auch Grundstücke, bei denen der Verdacht der Arisierung bestand.
Zwischen 1947 und 1949 erließen die Militärregierungen der drei westlichen Besatzungszonen Rückerstattungsgesetze, die später in das deutsche Recht übergingen, informiert die Bundeszentrale für politische Bildung. Diese Gesetze regelten die Rückgabe wieder auffindbarem Eigentums, vor allem solcher Werte, die in die Hände privater Nutznießer gelangt waren. Das Wertvolumen betrug etwa 3,5 Milliarden DM. (jsl)