Bad Vilbel. In den meisten Gemeinden in Deutschland fanden in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 gezielte Gewaltaktionen gegen die jüdische Bevölkerung statt. Deutschlandweit starben bei den Novemberpogromen mehr als 1000 Juden, 30 000 wurden verhaftet und verschleppt. Das religiöse Judentum in Deutschland wurde ausgelöscht, das traditionsreiche, vielfältige kulturelle Leben vernichtet.
Wie »Jüdisches Leben in Deutschland heute« aussieht, das war Thema einer Podiumsdiskussion mit musikalischen Einlagen Im Kultur- und Sportforum. Eingeladen hatten »Dortelweil Musik«, der Förderkreis Musik der evangelischen Kirche Dortelweil, und der Fachdienst Frauen und Chancengleichheit des Wetteraukreises, dessen Leiterin Claudia Taphorn die Veranstaltung moderierte. Einblicke in das jüdische Leben 85 Jahre nach den Novemberpogromen gaben den zahlreichen Teilnehmern im Kulturforum Sarah, Vorsitzende der jüdischen »Liberalen Gemeinde Emet we Schalom Nordhessen« und Daniel, Mitglied der Jüdischen Gemeinde Frankfurt. Beide wollten aus Sicherheitsgründen ihren Nachnamen nicht nennen.
2022 feierten die Gemeinden 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Das Duo kennt sich vom Schulprojekt des Zentralrats der Juden in Deutschland »Meet a Jew«.
Eine Zäsur, die unser
aller Leben verändert
Beide sagten, dass der 7. Oktober 2023 eine Zäsur gewesen sei, »er hat unser aller Leben für immer verändert, ist eine Tragödie«. Der Antisemitismus sei wieder sichtbarer geworden, finde auch in den Schulen statt. Sorgen bereite ihnen die schweigende Mehrheit. »Die hessische Landesregierung und die Polizei waren sofort für uns da, schützen uns und unsere Gottesdienste. »Der Krieg findet auf den Straßen statt. Deshalb ziehe ich und meine Familie unsere Kippa ab, wenn wir das Haus verlassen«, sagte Sarah. »Ich weiß nicht wie es weitergehen wird«, bilanzierte Daniel.
Die Erste Kreisbeigeordnete Stephanie Becker-Bösch (SPD) betonte: »Die Vielfalt des Glaubens ist breit und bunt und diese sollten wir leben«. Dekan Volkhard Guth vom Evangelischen Dekanat Wetterau, bekannte: »Beschämend ist, dass in unserem Land wieder jüdisch sein in Frage gestellt wird«. Becker-Bösch informierte, dass von den 230 000 Juden in Deutschland 95 000 in jüdischen Gemeinden organisiert sind.
»Wir sind ihre Nachbarn. Der Unterschied zwischen ihnen und uns besteht darin, dass, wenn wir in die Synagoge gehen, die Polizei vor der Tür steht, um uns zu schützen«, sagte Sarah. »Wir sind zwölf Millionen Juden auf der Welt, die es geschafft haben, 6 000 Jahre lang ihre Identität zu bewahren«, fügte Daniel hinzu. Beide betonten, dass sie sich als Deutsche fühlen und Deutschland ihre Heimat ist. »Deutschland ist mein Land und ich wünsche mir, dass es hier wieder ein lebendiges jüdisches Leben gibt.«
Die Teilnehmer hatten viele Fragen zum Judentum, zu Bräuchen und Regeln, der Rolle der Frau im Judentum, zum Shabbat, zum Essen, zu Unterschieden zwischen liberalen, konservativen und orthodoxen Gemeinden sowie zum Christentum. Und zur Bedeutung der Thora, den fünf Bücher Mose, die einer von drei Teilen der jüdischen Bibel sind. Sie enthält Berichte über die Schöpfung, über Mose und seine Begegnungen mit Gott, über die Geschichte des Volkes Israel und seine Wanderung durch die Wüste, außerdem die verschiedenen Gebote und Vorschriften im Judentum. Sie ist wichtig und wertvoll. Eine Thorarolle ist von Hand und mit Tinte von einem Thoraschreiber geschrieben. Sie hat rund 300 000 hebräische Buchstaben, für die der Schreiber rund ein Jahr benötigt. Jede jüdische Gemeinde besitzt mindestens eine Torarolle aus aufgerollten Rindshäuten, deren Wert rund 40 000 Euro betrage.
Umrahmt wurde die Podiumsdiskussion vom Klavierduo Tereza Bodnárová und Sibylle Wolf, die Musik von jüdischen Komponistinnen und Komponisten spielten. Gemeinsam mit Pfarrer Johannes Misterek von der evangelischen Kirchengemeinde Dortelweil beteten die beiden Juden gemeinsam mit den Teilnehmern auf Hebräisch und Deutsch.
Von Christine Fauerbach