Dieses Jahr bin ich nicht auf den Kirchentag gefahren. Denn ich gehe im Herbst in den Ruhestand und das will gut vorbereitet sein. Aber neugierig war ich doch.
Und so versuchte ich im Internet herauszufinden, was da los war. Dabei bin ich auf eine Zusammenfassung des Vortrags von Michael Sandel auf dem Stuttgarter Kirchentag gestoßen. Er ist Philosoph und kommt aus den USA. Das Besondere an ihm sind seine heißen Themenstellungen. Damit füllt er im Gegensatz zu vielen seiner und meiner Kollegen große Hallen.
Spannend finde ich, wie er mit dem Thema Markt und Geld umgeht. Sandel begann seinen Vortrag folgendermaßen: „Wenn Sie eine Hochzeitsrede für einen Freund nicht selbst schreiben, sondern maßgeschneidert im Internet kaufen, würden Sie ihrem Freund das sagen?“ Klar, dass das wohl niemand zugeben würde. Es würde den Wert der Rede reduzieren. „Geld ruiniert etwas.“ sagt Sandel.
Und doch passiert es oft und schon lange. Politiker lassen sich ihre Reden von anderen schreiben. Wir Pfarrer finden manch ansprechende Predigt im Internet. Man kann sie nutzen und muss noch nicht mal dafür zahlen, wie früher im Predigtring, wo Kollegen reihum für die anderen ihre Predigtvorbereitungen und eine ausgeführte Predigt veröffentlichten.
Aber Sandels Kritik reicht noch weiter. Immer mehr Dienstleistungen, immer mehr Dinge werden käuflich und den „Marktbedingungen“ unterworfen. Selbst in der Kirche. Die Beispiele haben mir zu denken gegeben. Wir reden vom „Spendenmarkt“, unsere regionale Diakonie in der Wetterau (DW) ist gerade aus einer wichtigen Arbeit abgewählt worden, die das DW hoch kompetent über Jahrzehnte geleistet hatte. Ein anderer Bewerber war billiger.
Oder denken wir an den Emissionshandel. Wenn ich genügend Emissionszertifikate gekauft habe, brauche ich mir als Firmenchef keine Gedanken darüber machen, was ich in die Luft blase. Ich hab ja bezahlt. Nur: die Luft wird trotzdem verschmutzt.
Neulich habe ich für indische Gäste unseres Dekanates die Flüge gebucht. Ich konnte wählen, ob ich eine Ausgleichszahlung für die Abgase des Fluges mitkaufen wollte. Klimaneutral fliegen, stand da. Blödsinn! Natürlich wird die Luft gewaltig belastet – aber ich habe ein gutes Gewissen, ich habe schließlich dafür bezahlt.
Seit Ronald Reagan und Margaret Thatcher in den 70ern und 80er Jahren proklamiert hätten, der Markt allein sorge für Wohlstand, beobachtet Sandel, wie immer mehr Bereiche, die eigentlich nicht verkäuflich sind, verkauft werden. Die zentrale Behauptung der Ökonomen, nach der Märkte neutral sind, stimme jedoch nicht: „Märkte verändern Werte“. Werden Dinge käuflich, werden wichtige ethische Fragestellungen verdrängt. Menschlichkeit und Lebensqualität werden plötzlich auch käuflich.
Viele Eltern kleiner Kinder haben das in den letzten Tagen höchst unangenehm am Kita-Streik erlebt. Zwar sind sie sich vielfach mit den Streikenden einig, dass deren Arbeit unterbezahlt sei. Aber die leeren Kassen der Kommunen verhindern eine schnelle Einigung und so trägt der Streik auf dem Rücken der Familien dazu bei, dass die klammen Gemeinden und Städte Geld sparen.
Schlimmere Konsequenzen hat dieses Marktdenken jedoch beim Organhandel. Viele Arme in Mittelamerika oder Afrika verkaufen ihre Organe, um zu überleben, und wer das nötige Kleingeld hat, rückt manchmal in der Liste der Wartenden auf. So geschehen in Göttingen vor einiger Zeit. Ein Arzt hatte die Liste etwas verändert. Natürlich nicht umsonst.
Wer wie beim Emissionshandel für seine Verschmutzung bezahlt, kann guten Gewissens CO² in die Luft pumpen und wer ein anderes Land dafür vergütet, seine Flüchtlinge aufzunehmen, braucht sich der anstrengenden und unangenehmen Diskussionen über deren Behandlung, Nächstenliebe, Solidarität und Verantwortung gar nicht erst zu stellen.
Wenn aber der öffentliche Diskurs entfällt, haben die Werte einer Gesellschaft weniger Raum – und verschwinden irgendwann. Manchmal denke ich, Sandel hat recht. Wir sind auf dem besten Weg dazu. Vermutlich fast jeder in meinem Alter kennt die Weissagung der Cree-Indianer: Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann. Nur: dann ist es zu spät.
Konrad Schulz
Pfarrer für Ökumene
im Ev. Dekanat Wetterau