Bad Vilbel. Eindringlich forderte der SPD-Landtagsabgeordnete und Träger des Alternativen Nobelpreises, Hermann Scheer, am Montag bei einer SPD-Veranstaltung vor mehr als 100 Zuhörern im Kurhaus die Beschleunigung der Energiewende. Sonne, Wind, Wasser und Biomasse seien nicht nur auf der ganzen Welt vorhanden, sondern auch endlos verfügbar, so dass lange Transportwege wie bei Kohle, Öl, Gas und Uran entfielen, Verteilungskriege nicht stattfänden und steigende Brennstoffpreise nicht mehr existierten.
Gegen massive Widerstände sei mit dem Erneuerbare-Energie-Gesetz des Bundes der Energiewechsel in Deutschland eingeleitet worden. „Wir nehmen eine beispielhafte Rolle ein, aber das ist längst nicht genug“, sagte der Referent. 250.000 neue Arbeitsplätze seien hier entstanden. Technisch und industriell sei Deutschland das führende Land und habe die Chance, im Export eine weltweite Ausrüsterrolle mit dauerhaftem Bedarf zu übernehmen.
Die gut halbstündige Verspätung Scheers, der aus Berlin eingeflogen kam, war keine Demonstration der Unzulänglichkeit bislang genutzter Primärenergien, sie war vielmehr auf den Wintereinbruch am Flughafen zurückzuführen. SPD-Stadtverbandsvorsitzender und Landtagskandidat Udo Landgrebe nutzte die Zeit, die besondere Bedeutung des Themas für Bad Vilbel darzustellen. Immerhin trete hier die CDU dafür ein, dass sich die Stadtwerke mit 28 Millionen Euro am Bau des Steinkohle-Großkraftwerkes in Lubmin mit jährlich 8,4 Millionen Tonnen CO 2- Ausstoß und Gefährdung von Flora und Fauna im Rügener Bodden beteiligten, lehne jedoch die Einrichtung eines Umweltbüros zur Beratung der Bürger in Energiefragen und energetischen Modernisierung städtischer Gebäude ab. Gleichzeitig hätten 15- und 16-jährige John-F.-Kennedy-Schüler nachgewiesen, dass durch eine Solaranlage auf dem Dach ihrer Schule über die Stromeinspeisung sogar langfristige Gewinne zu erzielen seien. „Wir brauchen solche jungen Menschen für unsere Zukunft“, rief Landgrebe den Zuhörern zu.
Scheer äußerte Verständnis für das psychologische Spannungsfeld, eine lange bewährte, aber nicht zukunftsfähige Energiepolitik aufzugeben, obwohl im Kopf jeder wisse, dass angesichts zu Ende gehender Ressourcen und „massiver Klimaschädigungen, die die Existenz ganzer Kontinente bedrohen“, eine Änderung unumgänglich sei. Wenn Andrea Ypsilanti vorgeworfen worden sei, mit dem von ihm erarbeiteten Energiekonzept Hessen zum Experimentierlabor für neue Energien machen zu wollen, werde ignoriert, dass „Hessen in den vergangenen zehn Jahren ein Versuchslabor zur Verhinderung dieser Entwicklung geworden“ sei. Als Beleg nannte er den Ausschluss von 99,8 Prozent der Fläche für den Bau von Windanlagen. So liege dieser Anteil an der Energiegewinnung hier bei 1,8 Prozent, im geringfügig kleineren Sachsen-Anhalt bei 40 Prozent, in Brandenburg bei 30 Prozent, hingegen in Bayern bei 0,5 Prozent und in Baden-Württemberg bei 0,46 Prozent. Daran werde deutlich, dass nicht wirtschaftliche, technische oder geografische, sondern ausschließlich politische Gründe ausschlaggebend seien, schlussfolgerte Hermann Scheer.
Dennoch sei in Deutschland innerhalb der vergangenen zwei Jahre der Anteil erneuerbarer Energien an der Gesamtenergieproduktion um sechs auf nunmehr 18 Prozent gestiegen. Bei gleich bleibender Dynamik könne 2032 eine 100-prozentige emissionsfreie Energieversorgung erreicht werden. Bei gleichen Kriterien in allen Bundesländern könnte heute der Anteil bereits bei 30 Prozent liegen und die Vollversorgung zehn Jahre früher erreicht werden. Deshalb fordert Scheer, bei jeder Raumordnungs-, Flächennutzungs- und Bauplanung den Aspekt der Energiegewinnung aus erneuerbaren Quellen zum „vorrangigen öffentlichen Belang“ zu machen, da sie unterschiedlichste öffentliche Belange wie „Umweltschutz, Gewerbeförderung vor Ort, Mittelstandsförderung, Förderung der Landwirtschaft, gesundheitsschonende Wirtschaftsweise und andere“ in sich vereinige.
„Wer will denn Energiewechsel verhindern?“ fragte Scheer und sprach von einer „koordinierten Aktion“ zwischen Wolfgang Clements Wahlempfehlung gegen Andrea Ypsilanti und der Hessischen Staatskanzlei. Zeitgleich hätten die großen Energiekonzerne RWE und EON vor einer „gefährlichen Entwicklung für Deutschland“ gesprochen, aber eine gefährliche Entwicklung für sich und ihre wirtschaftlichen Interessen gemeint. Denn wenn Energie dort erzeugt wird, wo man sie braucht, würden existentielle Abhängigkeiten überwunden und Infrastrukturen der Energiekonzerne überflüssig. Diese bedienten sich der Politik mit dem Ziel, den unaufhaltsamen Energiewechsel um wirtschaftlicher Gewinne willen zu verzögern.