Karben. Der Liedermacher greift in die Saiten seiner Gitarre und fängt an zu singen: „Wir müssen uns wehren gegen diesen Dreck.“ Ein junger Siemens-Mitarbeiter in Dreiviertelhose und Sonnenbrille verzieht die Mundwinkel angesichts der historisch klingenden, klassenkämpferischen Töne. „Ich stehe nicht so auf Gitarrenmusik“, sagt der junge Mann. „Aber hier müssen wir doch alle solidarisch sein. Geht ja schließlich um unsere Jobs.“
Um die 700 Menschen standen in der vergangenen Woche vor dem Tor des Klein-Karbener VDO-Werkes, viele Unterstützer waren aus den umliegenden Betrieben darunter. Zwei Stunden lang lag die Produktion brach. Mit einem schrillen Trillerpfeifen-Konzert protestierten die Mitarbeiter vor dem Tor gegen das drohende Aus für das Werk.
Das Horrorszenario malt die Gewerkschaft IG Metall an die Wand. Siemens plane bei einem Börsengang oder Verkauf der Sparte VDO die Schließung des Karbener Werkes mit seinen 1460 Mitarbeitern, heißt es. Siemens-Chef Klaus Kleinfeld widersprach zwar am Dienstag bei einem Telefonat mit Hessens CDU-Ministerpräsident Roland Koch.
„Aber was kann man einem schon glauben, der seinen Job heute vielleicht schon los ist?“, fragte Gewerkschafter Bernd Rübsamen – viereinhalb Stunden, bevor Kleinfelds Ausscheiden feststand. Und zwei Stunden, bevor der Aufsichtsrat über die Zukunft des Werkes Karben beriet. Das Ende der Kleinfeld-Zeit bei Siemens dürfte viele der frustrierten VDO-Mitarbeiter freuen. Denn niemand versteht, warum das Werk, ab 1991 mit 3000 Stellen von Frankfurt nach Karben gezogen, geschlossen werden soll. „Wir arbeiten produktiv, sind extrem gut ausgelastet“, berichtet Betriebsratschef Udo Meides. 21 Schichten, Gewinne.
2006 hatte die Firmenleitung eine Zukunftsgarantie bis 2008 gegeben. Im Gegenzug wurden 172 Stellen gestrichen. Von der Garantie ist keine Rede mehr. Aus neuerlichen 250 zu streichenden Stellen in Karben wurde gar die Idee, das Werk gleich ganz auszuradieren.
„Was soll man einem Unternehmen noch glauben?“, fragt Gewerkschafter Rübsamen in die Menge und erntet viel Applaus. „Es geht nur mit den Arbeitnehmern, nicht ohne uns“, ruft er. „Wir sind die, die die Gewinne erwirtschaften.“ Über die sich auch Bürgermeister Roland Schulz (SPD) freut, wenn bei der Gewerbesteuer seine Stadtkasse klingelt. Daher erklärt er sich namens aller Gremien der Stadt solidarisch mit dem Protest: „Wir brauchen dieses Werk!“
Wovor die Beschäftigten Angst haben: Dass ihnen das gleiche Schicksal droht wie den Kollegen der ehemaligen Siemens-Handysparte. „Wir lassen kein zweites BenQ zu“, ruft Betriebsratschef Meides. Genau so die Zeilen auf vielen Plakaten. Nicht wenige unter den Protestierenden fürchten, dass es dafür schon zu spät ist. „Da hätten wir schon viel früher was machen müssen“, sagt Mitarbeiterin Sabrina Dietzel (26) aus Heldenbergen. Denn das schier endlose Rätselraten um die Zukunft des Werkes ist es, was viele Beschäftigte ärgert. „Die Konzernleitung sagt ja erst etwas, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist“, beschwert sich Wolfgang Stanzel (51). „Wir erfahren alles immer nur aus Funk und Fernsehen.“ Kein Wunder also, dass die Stimmung im Karbener Werk gedrückt ist. (den)
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