Pfarrer Michael Neugber (65) verabschiedet sich nach über 20 Jahren von seinem Amt in Petterweil. Ein Gespräch über Ankommen und Abschied, über das heutige Gemeindeleben und Anforderungen an die Kirche der Zukunft – und warum er mit Blick auf die Welt durchaus Bauchschmerzen hat.
Herr Neugber, erinnern Sie sich an den Tag, als Sie nach Petterweil kamen?
Oh ja! Es war der 5. Januar 2003, mit minus 21 Grad der kälteste Tag dieses Winters, und das Heizöl im provisorischen Pfarrhaus in der Alten Haingasse war alle – kein guter Tag für einen Umzug (lacht). Davor war ich 17 Jahre lang in Dickschied (Rheingau-Taunus-Kreis) eingesetzt, dort habe ich drei Kirchengemeinden mit zehn Dörfern, verteilt auf eine unheimlich große Fläche, betreut. Da kam mir Petterweil fast städtisch vor (lacht). Wir dachten damals, wir bleiben zehn Jahre und ziehen dann noch mal weiter…
…und dann? Was hat Ihnen so gut gefallen, dass es Sie in Petterweil gehalten hat?
Die Petterweiler Kirchengemeinde mit ihrem Kontakt zu anderen Gruppen, etwa den Landfrauen, und der lebendigen Ökumene ist etwas Besonderes. Unsere Friedenslichtaktion etwa war schon immer ökumenisch und mit den Pfadfindern gemeinsam organisiert. Darüber hinaus habe ich immer bewundert, wie sich die Petterweiler immer wieder aufs Neue selbst initiiert haben: Da ist der Kirchenchor gestorben, dafür ist der Gospelchor gekommen, eine Sache geht, etwas Neues entsteht – aus der Gemeinde heraus. Das musste ich nie antreiben, das ist wirklich besonders. In unserem Gemeindehaus ist jeden Abend Leben. Mir war auch immer wichtig, viel Gestaltungsraum zu lassen und beispielsweise den Kirchenvorstand seine Arbeit machen zu lassen.
Inwiefern ist dieses Zusammenspiel mit anderen Gruppierungen und Vereinen heute wichtiger für die Kirche als es vielleicht früher der Fall war?
Kirche ist sich selbst nicht mehr genug, sondern muss als Teil des Dorflebens gedacht werden, als Teil der Frage »Wie können wir hier gut zusammenleben?«. Diese Frage eint uns ja mit anderen, und diese Schnittmenge sollte man nutzen. Man muss nicht jedes Problem für sich allein lösen.
Als die Zahl der Kirchenmitglieder kürzlich unter 1000 gerutscht ist und als eine Folge Gottesdienstzeiten reduziert werden mussten, haben auch das mitunter engagierte Petterweiler abgefedert – und im Wechsel Angebote in der offenen Kirche gemacht. Braucht es Mut, die Kirchenräume ohne offizielle Aufsicht offen zu lassen?
Ja, den braucht es absolut! Aber wir haben beobachtet, dass Austretende nicht immer auch frei von religiösen Bedürfnissen sind. Und gerade für diejenigen, die einfach mit dem Angebot eines Gottesdienstes nichts anfangen können, war das vielleicht auch eine Gelegenheit, mal wieder in die Kirche zu gehen. Ähnlich wie Parteien, hat die Kirche heute das Problem, als Organisation nicht attraktiv zu sein. Menschen wollen sich nicht mehr so gern binden.
Macht das auch das Pfarrersein heute schwieriger als zu Ihren Anfängen?
(überlegt) Ich weiß nicht, ob es schwieriger ist – aber es ist anders. Die Zuständigkeiten werden immer größer, und mitunter macht es mir Sorgen, wie gerade junge Kolleginnen und Kollegen das bewerkstelligen sollen…
Wie sehen Sie die (nahe) Zukunft der Kirche?
Die Kirche wird nicht sterben. Wie genau sich Organisation und Struktur entwickeln werden, wird sich zeigen müssen – aber sie werden sich zurechtruckeln. Ich denke und hoffe, dass Kirche an mehr Orten stärker ökumenisch gedacht wird. Wir müssen uns als Christen als eine Gruppe vor Ort verstehen, dadurch erreichen wir mehr Menschen.
Warum ist die Kirche als Institution aber gerade heute, in Zeiten globaler Konflikte und gesellschaftlicher Spannungen, wichtig?
Es gibt viele aktuelle Baustellen, bei denen sich Kirche neu positionieren kann und muss. Das zeigen unsere regelmäßigen Friedensgebete, aber auch die großen gemeinsamen Proteste gegen den AfD-Parteitag in Karben. Mit unseren Positionen gegen den Klimawandel und für mehr Biolandwirtschaft haben wir auch Knatsch mit den Landwirten riskiert, das gehört dazu. Aber hier muss sich Kirche auch mit »neuen« Themen beschäftigen. Manchmal staune ich, wie verflochten und verworren vieles geworden ist. Dem müssen wir als Kirche uns stellen – da könnte man fast einen eigenen Kollegen für einstellen…
Angesichts dieser aktuellen Baustellen: Gehen Sie mit einem guten Gefühl in den Ruhestand?
Gesamtgesellschaftlich habe ich durchaus Bauchschmerzen. Ich beobachte aktuell, dass es zunehmend Gruppen gibt, die es sich zu einfach machen und propagieren, dass es eine einfache Lösung auf die heutigen Probleme geben könnte. Aber einfache Lösungen gibt es nicht. Ich beobachte den erstarkenden rechten Rand – nicht nur in Deutschland, sondern beispielsweise auch in den USA – also mit Sorgen. Mit Blick auf die Kirchengemeinde bin ich aber optimistisch. Wir haben hier in Petterweil viele junge Menschen – unter 50, aber auch unter 20 –, die sich sehr engagiert einbringen. Und die ein sehr agiles Pfarrteam mit sehr vielfältigen Kompetenzen an der Seite haben. Mit Blick auf unsere Kirche und Petterweil gehe ich also mit einem guten Gefühl, ja.
Und was machen Sie mit Ihrer neu gewonnenen Zeit?
Noch habe ich diese nicht. Durch den Wechsel steht viel Organisatorisches an, zudem mussten und müssen wir im Pfarrhaus aus den 1960er Jahren, das zuletzt immer wieder Wasser im Keller hatte, viel räumen. Auch das Archiv muss noch sortiert, Kirchenbücher gebunden werden. Es gibt aber auch noch viele schöne Termine, jüngst etwa ein gemeinsames Essen mit den Mitwirkenden des Krippenspiels. Diese Termine werden sich wohl langsam ausschleichen.
Darüber hinaus nehme ich viele Arztbesuche wahr, die ich die letzten Jahre vernachlässigt habe. Perspektivisch freue ich mich darauf, mehr Zeit für meine Musik zu haben, ich werde in Posaunenchor und Flötenkreis aktiv bleiben. Gesundheitsbedingt sollte ich mehr Zeit für Sport, Reha und Aufenthalte an stillen Orten einplanen. Da kann ich dann auch gut überlegen, wo es mich geografisch langfristig hinzieht.
Von Jana Sauer