Bad Vilbel. In schönen Bildern erzählt Regisseur Egon Baumgarten die Geschichte von Tevje, dem Milchmann, im kleinen Dorf Anatevka. Gerade die „Volksszenen“, in denen rund 20 Mitglieder des VilBelCanto-Chores aus der hiesigen Musikschule mitsingen und -tanzen, geraten zum durchkomponierten großen Tableau.
Ein besonderer Augenschmaus sind dabei die Tanzszenen etwa zum Auftakt und in der Kneipe, wo sich die russische Seele im Tanze Bahn bricht. Immer wieder hat Choreograph Stephan Brauer auf engstem Raum viel Bewegung ins Spiel gebracht. Aber auch die familiären Momente sind gelungen von Baumgarten in Szene gesetzt, dies auch dank eines grandiosen Bühnenbildes, für das Professor Thomas Pekny verantwortlich zeichnet. Die fahlweiß getünchten Bretterverhaue lassen Armut, Verfall und Enge des in der Ukraine gelegenen Schtetls erahnen und bieten die Projektionsfläche für die familiären wie die heraufziehenden politischen Umbrüche. Der arme Tevje, wunderbar gespielt von Marco Jorge Rudolph, und seine Frau Golde (Marina Edelhagen – begeistert mit Stimme und Spiel) sind mit fünf Töchtern gesegnet. Sie gut zu verheiraten, das ist die Aufgabe von Jente (Inez Timmer), der Heiratsvermittlerin.
Einen überzeugenden Auftritt liefert Timmer ab, als Jente der Golde mit Metzger Wolf Lazar (Heiko Stang) einen Bräutigam für die älteste Zeitel (Dorothée Kahler) präsentiert. Erstaunlich, wie variantenreich sie ihre Redewendung „Stimmt’s? Natürlich stimmt’s!“ erklingen lässt.
Obwohl sich die Eltern mit Lazar einigen, verweigert sich Zeitel der Entscheidung der Eltern. Sie hat sich in den armen Schneider Mottel verliebt. Köstlich mit anzusehen, welche Verrenkungen Mottel alias Oliver Hahn macht, als er schließlich bei Tevje um Zeitels Hand anhält. Dieser nimmt das Zwiegespräch gen Himmel auf, reflektiert „Andererseits – andererseits“ und sagt Ja zum Bruch mit der Tradition. Die wird, so macht es gleich das Eingangslied „Tradition“ deutlich, in Anatevka bis dahin hochgehalten. Baumgarten setzt dies mit starkem Gewicht auf jüdische Rituale und reichlich Ausflüge ins Folkloristische um. Doch die Zeiten stehen auf Veränderung.
Und daher ist der Widerstand nicht heftig, die Traditionen aufzuweichen und umzustoßen. Tevje gibt Zeitel nach, scheinbar leichten Herzens. Kurz nur blitzt bei Wolf Lazar, dem Zeitel schon öffentlich versprochen war, Unmut übers gebrochene Heiratsversprechen auf.
Tochter Hodel (Nina Vlaovic) verliebt sich in den revolutionären, aber bettelarmen Studenten Perchik (Udo Eickelmann). Und Tevje gibt den Segen zur Liebesheirat.
Angesichts so viel Gerede von Liebe fragt Tevje seine Frau, die er erst bei der Hochzeit das erste Mal sah, ob sie ihn denn, nach gut zwanzig Jahren Ehe, liebe. Golde weicht den bohrenden Fragen aus, windet sich und gesteht schließlich ihre Zuneigung. In einem wunderschönen Duett kreieren Rudolph und Edelhagen einen berührenden Moment.
Als Tochter Chava (Stephanie Marin) sich jedoch in den nicht-jüdischen Russen Fedja (Rapahel Koeb mit schöner Stimme und flotter Sohle) verliebt, sieht Tevje rot und bricht mit der Tochter.
Den szenischen Aufbau des Stückes, bei dem auch große Zeiträume übersprungen werden, halten Rudolph und Edelhagen mit ihrem Spiel zusammen. Die heimlichen Rendezvous der Töchter mit ihren Auserkorenen werden nur angedeutet, schon folgt der Heiratsdisput mit ihrem Vater Tevje. Lange Zeit dominieren die familiären Probleme in Anatevka – alles unter den Augen des Wachtmeisters (Axel Weidemann) und seiner Truppe. Die Unterdrückung und die sich ankündigenden Gewaltexzesse bleiben in der Inszenierung ein Randphänomen. Nur kurz ist der gewaltsame Übergriff der Polizei während des Hochzeitsfestes. Schon ist der Spuk wieder vorbei. Die Verfügung an die jüdische Bevölkerung von Anatevka, innerhalb zweier Tage Haus und Hof zu verlassen, löst sich auf in ein Bild zuversichtlicher Auswanderer. Alle haben Pläne, zu Verwandten in die USA, nach Jerusalem oder nach Krakau zu ziehen, und begeben sich – freiwillig – auf den Weg. Bleibt noch zu erwähnen, dass das Lichtdesign von Jan Langebartels die Stimmung der Szenen gut unterstützt. Getragen wurden die Sänger auch von der wunderbar live gespielten Musik unter der Leitung von Thomas Lorey.
Immer wieder gab es Szenenapplaus. Mit frenetischem Beifall und Jubelrufen belohnten die Zuschauer am Ende die Leistungen des Ensembles.