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Emotionales Fernbleiben

Annette Zindel-Strauß vom Kulturamt Bad Vilbel und Jo van Nelsen in der Stadtbibliothek bei der Lesung des Romans »Streulicht«. Foto: Hans Hirschmann
Annette Zindel-Strauß vom Kulturamt Bad Vilbel und Jo van Nelsen in der Stadtbibliothek bei der Lesung des Romans »Streulicht«. Foto: Hans Hirschmann

Bad Vilbel. Die Quellenstadt spielt in Jo van Nelsens Bühnenkarriere eine besondere Rolle. Vor mehr als 30 Jahren hat er das Bühnenprogramm des damals neuen Kulturzentrums Alte Mühle eröffnet, einige Jahre später hat er für das Spätprogramm der Burgfestspiele seine erste Regie-Arbeit abgeliefert. Dazwischen und auch danach standen jährlich weitere Auftritte an – sei es als Chanson-Sänger von Liederabenden, als Moderator der von ihm kreierten Grammophon-Lesungen oder als Vortragender seiner auch als Hörbuch-Lesungen vorliegenden Programme.
»Ferne Väter«
Nun stellte er in der Stadtbibliothek mit »Ferne Väter« in Bezug auf den Roman »Streulicht« ein neues Format seiner Vielseitigkeit vor: Es war als »Lesung mit Gesprächsangebot« angekündigt. Dieses Gesprächsangebot richtete sich nicht nur an das rund drei Dutzend Hörerinnen und Hörer umfassende Publikum, sondern vor allem an eine Gesprächspartnerin, die mit Jo van Nelsen auf dem Podium sitzt und in den Lese-Pausen mit ihm interpretatorische Fragen erörtert. Diese Rolle hat in Bad Vilbels Stadtbibliothek Annette Zindel-Strauß vom Kulturamt übernommen. Sie stellte den mit mehrfach ausgezeichneten Bühnenkünstler als »Kultur-Allrounder« vor.
Als solcher ist er beim diesjährigen Festival »Frankfurt liest ein Buch« (noch bis zum 7. Mai) mit seinem neuen Programm »Ferne Väter« gleich mit mehreren Terminen beteiligt. Bei dem Festival dreht sich alles um den Roman »Streulicht«, der 1988 geborenen und in Frankfurt aufgewachsenen Autorin Deniz Ohde. Die Ich-Erzählerin des Romans (nicht zu verwechseln mit der Autorin, obwohl Ähnlichkeiten zu ihrem Lebenslauf vorhanden sind) stellt gleich im ersten Kapitel ihren Vater als eine der zentralen Figuren vor. Jo van Nelsen beschreibt dessen weitere Charakterisierung drastisch: »Verloren, überfordert, brutal spiegelt er das Trauma einer ganzen Generation, die die Sprachlosigkeit der Eltern nach dem 2. Weltkrieg übernommen hat, ohne eine eigene Sprache gefunden zu haben. Das transgenerationale Trauma der »fernen Väter« wird weitergegeben, ohne dass es bewusst ist.«
Als Jo van Nelsen dies bei der Lektüre deutlich geworden war, habe er sich entschlossen seinen Beitrag als »Lesung mit Gesprächsangebot« zu konzipieren und sich so erstmals auch mit einem Bühnenprogramm mit seinem Beruf als Systemischer Coach »zu outen«. Dies bedeutet, dass er Passagen aus dem Roman vorlas und mit einem Partner auf der Bühne im Gespräch Interpretationen diskutiert.
Systemisches Coaching
Annette Zindel-Strauß, bat näher zu erläutern, was Systemisches Coaching sei. Jo van Nelsen beschrieb es als ein Kurztherapie-Format, eng mit sogenannten Familienaufstellungen verbunden. Dabei werden bei Einzel- oder auch Gruppensitzungen Probleme aus Familie, Partnerschaft oder auch dem Beruf thematisiert. Ziel sei es, die Probleme aus vielleicht ungewohnter Perspektive wahrnehmen zu können und sich so auf Lösungswege, die zuvor nicht denkbar gewesen seien, einlassen zu können.
In der Stadtbibliothek las van Nelsen dann Passagen vor, in denen die Ich-Erzählerin von »Streulicht« detailliert und literarisch das Erstarren ihres Vaters – und auch ihrer Mutter – beschrieb. Eine Veränderung von deren Alltagsverhalten war ihnen nicht vorstellbar: »Ein anderes Wollen, war nicht denkbar« und »Wünsche, das war etwas für andere.« Dies führte zu einem »emotionalen Fernbleiben« untereinander. Zudem übertrug es sich auf die Tochter (die Ich-Erzählerin) und äußert sich auch bei ihr in einer ängstlichen Teilnahmslosigkeit, mit dem Ziel hoffentlich übersehen zu werden.
Überlebensstrategie
Als ihre Schulfreundin Sophia bemerkt »Du tauchst immer so aus dem Nichts auf«, lächelt die Ich-Erzählerin und tat so »als wäre meine Lautlosigkeit eine charmante Eigenschaft und nicht Ausdruck einer erlernten Überlebensstrategie«.
Mit der Aufforderung »Lesen Sie dieses Buch« dankte Jo van Nelsen dem Publikum für die Aufmerksamkeit. (hir)

Weitere Informationen und Termine zum Lese-Festival online unter www.frankfurt-liest-ein-buch.de