Ich stehe mit einer Gruppe von Konfirmanden in unserer Kirche vor der Seitenwand, wo Jesus an einem Holzkreuz hängt. Links und rechts hängen Tafeln mit sehr vielen Namen, jeweils dahinter mit den Lebensdaten. Es sind Namen, die einigen vertraut vorkommen, weil es sie auch heute im Dorf noch gibt. Ganz oben auf der Holztafel steht: Zum Gedenken an die Opfer der beiden Weltkriege. Einige Konfirmanden fangen an, die Geburts- und Todesdaten vorzulesen und kommentieren: „Ach du Schreck, einige haben ja nur wenige Jahre länger gelebt als wir heute alt sind!“ Sie können es kaum fassen, wie viele junge Männer aus diesem Ort nur so kurz haben leben dürfen.
Innerlich bewegt kommen wir ins Gespräch. Und ich erzähle von dem Protest meiner Generation vor gut 40 Jahren, dass diese Gedenktafeln in Kirchen hängen. Wir wollten uns damals vor jeglicher Opferverherrlichung distanzieren, die den Tod der vielen Soldaten „für Volk und Vaterland“ heldenhaft verstehen könnte. Millionenfach sind diese jungen Männer doch für den Größenwahnsinn der Machthaber missbraucht worden, haben ihr Leben letztlich für nichts und wieder nichts „geopfert“ und dazu anderen Völkern unsägliches Leid gebracht. Und die Kirchen haben zu einem nicht geringen Teil dies ideologisch gedeckt und die Kriege gerechtfertigt. Um diesen kritischen Protest der Nachkriegsgeneration ging es, so versuche ich es zu erläutern, den Finger auf die weiter offen schmerzende Wunde zu legen. Gerade der Volkstrauertag war uns damals sehr anstößig, weil er mehr das Heldengedenken als die Offenlegung der schuldhaften Verstrickung des deutschen Volkes herausstellte.
Ich schaue gespannt in die Gesichter der Konfirmanden und frage mich, ob sie mein engagiertes Reden verstehen. „Und warum wurden die Tafeln nicht einfach abgehängt, wenn viele damals dagegen waren?“, fragt mich ein Mädchen. Ich überlege kurz: „Ich finde es gut und sinnvoll, dass die Tafeln weiterhin und zwar ganz in der Nähe des gekreuzigten Jesus hängen. Denn die Botschaft sollte klar sein: Das Opfer Jesu ist aus Gottes Sicht das einzige Opfer, das für etwas Gutes Sinn gemacht hat: Versöhnung und Heilung zu bringen, indem der Bruch der Welt mit Gott aufgehoben wird. Das ist hintergründig gemeint, wenn der Apostel Paulus schreibt: „Denn durch sein Sterben ist er ein für allemal gestorben für die Sünde“ (Römer 10,6). Der Tod der auf den Tafeln stehenden Soldaten kann und soll uns bleibende Mahnung sein. Und dies ist für mich auch die Begründung dafür, dass die Kirche im Namen Gottes immer nur für das Leben, für Frieden und Versöhnung eintreten darf. Zur Ausweitung politischer oder religiöser Macht kann der Einsatz menschlicher Opfer aus christlicher Sicht niemals gerechtfertigt sein.“ Der kommende Sonntag ist der Volkstrauertag. Nicht nur an diesem Tag sollten wir all der unsinnigen Opfer in Geschichte und Gegenwart gedenken und uns zum Friedens- und Versöhnungsdienst verpflichten.
Pfarrer Matthias Gärtner,
Ev. Kirchengemeinde Dortelweil