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»Darf kein Tabuthema mehr sein«

Jeder siebte bis achte Erwachsene hat sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend erlebt. Foto: dpa/wpa
Jeder siebte bis achte Erwachsene hat sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend erlebt. Foto: dpa/wpa

Bad Vilbel. Bei der Selbsthilfekontaktstelle Bürgeraktive in Bad Vilbel soll eine neue Selbsthilfegruppe für »erwachsene Menschen nach sexuellem Missbrauch in der Kindheit« entstehen.
Jeder siebte bis achte Erwachsene in Deutschland hat sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend erlitten. Das haben Dunkelfeldforschungen aus den vergangenen Jahren ergeben. Von vielen Taten erfährt nie jemand. Für Betroffene ist es oft nicht leicht, einen Ansprechpartner zu finden. »Bis einem Kind geglaubt wird, muss es statistisch vier bis fünf Personen ansprechen«, sagt Betroffene Sylvia Harbig. Den Kindern begegne die Familie und das Umfeld skeptisch. Wenn die Täter aus der eigenen Familie kommen, würden sie geschützt.
Sylvia Harbig kann da nur den Kopf schütteln. Sie will das Tabuthema in die Öffentlichkeit holen. »Nicht die Opfer müssen sich schämen, sondern die Täter.« Die körperlichen und seelischen Folgen für Betroffene können schwerwiegend sein und lebenslang anhalten. Es könne Jahrzehnte dauern, bis das Erlebte angesprochen wird. »Dabei kann gerade das häufig helfen und einen Anstoß zur Bewältigung geben.«
Deshalb will Harbig bei der Selbsthilfekontaktstelle Bürgeraktive eine neue Selbsthilfegruppe ins Leben rufen. Sie soll sich einmal im Monat treffen. Dabei soll es um folgende Frage gehen. »Was bewegt mich? Wie habe ich überlebt? Welche Folgen hatte die Tat für mein Leben?« Natürlich müsse man sich am Anfang kennenlernen und zueinander Vertrauen fassen. Schließlich gebe es viele Arten von sexuellem Missbrauch. »Viele Menschen wissen nicht, wo der Missbrauch bereits beginnt.« Harbig weiß, dass es ein sensibles Thema ist. »Wir wollen auch die juristische Seite in der Gruppe beleuchten.«
Schuldumkehr und
tiefes Misstrauen

Im Jahr 2023 registrierten die Strafverfolgungsbehörden 16 375 Fälle von sexuellem Missbrauch von Kindern (5,5 Prozent mehr als im Jahr 2022). Im Fünf-Jahres-Vergleich seit 2019 bedeutet dies einen Anstieg von rund 20 Prozent. Diese Zahlen hat das Bundeskriminalamt veröffentlicht. Harbig findet diese »erschreckend«. Sie sagt, dass sich daran etwas ändern müsse. »Es darf kein absolutes Tabuthema mehr sein.«
Harbig spricht im Gespräch immer wieder vom »Überleben«. Viele hätten jahrelang nicht über die Tat und Taten gesprochen. »Stattdessen mussten sie vielleicht sogar eine Schuldumkehr ertragen.« Harbig möchte Menschen das Gefühl geben, gehört zu werden. »Sich zu äußern, hilft.« Das weiß Harbig aus Erfahrung. »Bei den Betroffenen besteht oft ein tiefes Misstrauen, dass alle Lebensbereiche betreffen kann.« Die 70-Jährige sagt weiter: »Man sieht einer Person ihre sexuellen Absichten nicht an.«
Die Selbsthilfegruppe sei offen für betroffene Männer und Frauen, allerdings nicht geeignet für Menschen mit einer akuten psychischen Erkrankung. »Wir wollen uns erstmal kennenlernen und miteinander reden«, sagt die Heilpraktikerin. Wichtig sei es, die Vorstellungen und Erwartungen der anderen zu hören und sich auszutauschen. Harbig ist überzeugt: »Die Gruppe findet auch im ganz kleinen Kreis statt.« Auch das spätere Einsteigen sei möglich. Sie sagt abschließend: »Wir wollen uns gegenseitig dabei unterstützen, das Geschehene zu verarbeiten. Als Opfer einer solchen Tat muss man sich nicht schämen. Man hat nichts falsch gemacht. Die Schuldigen sind und bleiben die Täter.«
Von Patrick Eickhoff

J Wer Interesse an der Selbsthilfegruppe hat, schreibt eine E-Mail an info@ buergeraktive-bad-vilbel.de oder ruft an unter 0 61 01/13 84.