In Bad Vilbel leben viele syrisch-orthodoxe Christen. Seit Jahren feiern wir am Pfingstmontag einen gemeinsamen Gottesdienst. Die meisten Familien stammen aus Syrien oder der Türkei. Seit Jahren kämpfen die Christen dort um den Fortbestand ihres kulturellen Zentrums am Turabdin („Berg der Knechte“) im Osten der Türkei. Enteignungen durch den türkischen Staat bedrohen das Kloster in seiner Existenz, das bereits seit dem 6. Jahrhundert dort steht. Als Minderheit sind die Christen dort oft der Willkür von Behörden ausgeliefert.
Ein anderes Beispiel: In diesen Tagen haben wir erlebt, wie unsicher die weitere Entwicklung in den Staaten des arabischen Frühlings ist. Vor allem für Minderheiten wie die Christen. Ich denke an die Niederschlagung und die Kämpfe im Zusammenhang mit einer Demonstration von Christen für Religionsfreiheit in Kairo. Bei aller Freude über die neu gewonnene Freiheit fragen sich viele: Welche Rolle wird die Religion in den Gesellschaften spielen, die sich neu formieren? Und noch einmal ein anderes Beispiel: In den letzten Jahren sind in der Provinz Orissa in Indien Hunderte von Christen getötet und vertrieben worden. Hindus fühlen sich von den Christen bedroht, obwohl diese nur eine verschwindend kleine Minderheit darstellen.
Wozu diese Aufzählung? Der Wochenspruch von diesem Sonntag lautet: „Dieses Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe“ (1. Johannesbrief 4, 21). Hier werden die Christen aufgefordert, ihre Brüder (und Schwestern) zu lieben. Man kann den Vater im Himmel nämlich nicht haben, ohne die Brüder und die Schwestern zu lieben. Die Christen der ersten Generation haben dieses Gebot sehr ernst genommen. Überall waren die Christen verfolgte Minderheiten. Es war klar, dass man zusammen gehalten hat. Als die Christen in Jerusalem im 1. Jahrhundert hungerten, sammelten die Gemeinden im gesamten Mittelmeerraum Geld, um den Geschwistern in Not zu helfen.
Im Neuen Testament ist die Bruderliebe tatsächlich zuerst die Liebe zu den Geschwistern (im Glauben). Doch es zeigt sich von Anfang an, dass diese Liebe hier nicht aufhört. Sie gilt auch denen, die anders oder gar nicht glauben. Ja selbst den Feinden. Und doch ist es in diesen Tagen gut, einmal an diese erste Bedeutung zu denken. Wo haben wir eine Verantwortung für Christen in den Teilen der Welt, wo sie verfolgt werden? Wo ist unsere Solidarität mit den Christen, die im Gefängnis sitzen, nur weil sie an Jesus glauben?
Ich bin überzeugt, dass wir hier eine große Verantwortung haben. Mit anderen Worten: Ja, wir sind der Hüter unserer Geschwister. Aber noch mehr: Wir sind Hüter für Minderheiten überall. Egal, welchen Glauben sie haben. Das mussten wir erst mühsam lernen. Nachdem es nämlich Zeiten gegeben hat, in denen eine christliche Mehrheit viel Schuld auf sich geladen hat im Umgang mit Minderheiten.
Ihr Jens Martin Sautter,
Pfarrer der Christuskirchengemeinde