Genau wie der Mensch entwickelt sich eine Stadt idealerweise im Dreiklang: Körper, Seele und Geist. Sprich für eine Stadt: wirtschaftlich, planerisch (Verkehr, Bauen) sowie sozial und kulturell.
Am Anfang stand die Haushaltssanierung: Schulden wurden abgebaut, Zinsen reduziert, Einnahmen erhöhrt. In unvergleichlicher Manier hat der damalige Kämmerer, Klaus Minkel den finanziellen Rücken der Stadt frei gemacht für Investitionen und diese auch vorangetrieben. Mit dem Jugendhaus (heute Freizeitzentrum) und der Einrichtung von Jugendclubs in allen Ortsteilen fing es an. Beseitigung der Industriebrache, Kanalisierung, Sportförderung, Förderung der Vereine, Feuerwehrgerätehaus, Änderungen der Verkehrsführung, den Kreisel am Südbahnhof, dem weitere folgten, Innenstadtsanierung, die von privaten Sanierungen flankiert wurden. Kurz: Die Stadt wandelte ihre äußere Gestalt sehr zum Wohlgefallen der Bürger und Besucher. Sie lud mehr und mehr zum Verweilen ein. Anders gesagt: die Bürger begannen, ihre Stadt anzunehmen.
Grundlage Sozialplan
Genauso wichtig aber die soziale Entwicklung. Grundlage aller sozialen Ideen und Errungenschaften waren der Sozialplan, die aus ihm entstandenen Einzelpläne, wie Altenhilfeplan, Spielplatzbedarfsplan, Sozialberichterstattung 2000 und besondere Aktivitäten des damaligen Bürgermeisters. Schon früh war eine Seniorenbetreuung eingeführt worden und der soziale Wohnungsbau mit Millionen Mark gefördert. So wurden Millionen einerseits für die Baugenossenschaft aufgebracht, anderseits durch Zinszuschüsse Mieten verbilligt, um den Bedürftigen zu helfen. Von den Projekten das am meisten geschmähte: „Eine Stadt hilft sich selbst.“ Eine Gruppe von Bürgerinnen und Bürgern stellte sich an öffentliche Plätze der Stadt, führte Befragungen durch und sammelte so Stoff für ein Theaterstück. (Gag am Rande: Um auf die Aktion aufmerksam zu machen, hatten wir einen Aktivisten in eine Mülltonne gesteckt, der ab und zu mit dem Deckel klapperte. Zwei ältere Damen schauten nach, ob da wirklich jemand drinnen saß. Erschrocken drehten sie sich um, sahen den damaligen Bürgermeister daneben stehen und riefen aus: „Herr Bürgermeister, jetzt sitzen die Grünen schon in der Mülltonne.“ Das Stück wurde auf dem Zentralparkplatz aufgeführt. Per Moderation wurden Arbeitsgruppen gebildet. Mit wissenschaftlicher Hilfe entstand daraus ein auf Bundesebene gefördertes Modellprojekt, in Bad Vilbel bekannt unter dem Namen Bürgeraktive.
Ziel aller Aktionen war es, den Bürgern bewusst zu machen, dass sie selbst die Stadt sind, und darüberhinaus noch Unterstützungsnetze nachbarschaftlicher Art zu schaffen, die sich gegenseitig behilflich sein sollten. Mit der „Lokalen Agenda 21“ wurde dieser Gedanke aktiv fortgesetzt. Auch hier entstanden moderierte Arbeitsgruppen, in denen sich viele Bürger engagierten. Ein herausragendes Ergebnis dieser Aktivitäten: Es entsteht die „Nachbarschaftshilfe e.V.“, eine sehr segensreiche Einrichtung. Sie ist mit über 1000 Mitgliedern ein äußerst wichtiger Sozialfaktor in dieser Stadt. Fazit: Die Zufriedenheit in der Stadt Bad Vilbel wuchs.
Mit dem angepeilten kulturellen Aufschwung wurde das stärkste Bollwerk gegen eine „feindliche Übernahme“ durch die nahe Großstadt geschaffen. Er begann mit einem Flop. Der damalige Bürgermeister bestellte aus London das Ballett „The London dance events“, richtete den großen Saal des Kurhauses mit ca. 6oo Stühlen aus und fiel fast in Ohnmacht, als nur 16 Besucher die Veranstaltung sehen wollten. Keine der in der Wetterau existierenden Gazetten konnte sich einen hämischen oder gar bissigen Kommentar verkneifen.
Auf Ratschlag und unter Mithilfe des damaligen Pfarrers der Heiligen-Geist-Kirche auf dem Heilsberg wurden Kulturtage eingeführt, die sich nach dem jeweiligen Motto der Buchmesse richteten. Zur Eröffnung der ersten Kulturtage waren sieben Besucher anwesend, die sich allerdings im kleinen Kaffee des Kurhauses „drängelten“, das damit immerhin halb voll war. Im Laufe der Zeit kamen immer mehr Besucher. Die dritten oder vierten Kulturtage mit dem Motto „Spanien“ und der Darbietung der Weltmeister im Flamenco konnten schon wieder im großen Saal des Kurhauses stattfinden.
Ein Reporter fragte den damaligen Bürgermeister: „Warum mieten Sie nicht einen Bus und fahren die Leute nach Frankfurt, das ist doch billiger.“ Mag sein, es dient aber nicht der Emanzipation einer Stadt.
Im nächsten Schritt wurde im Kurhaus ein Abonnement-Theater eingeführt. In den ersten Jahren wurden nur Komödien mit Stars aus Rundfunk und Fernsehen auf die Bühne gebracht. Erst als es eine Warteliste auf die Abonnement-Plätze gab, wurden nach und nach zwei Kriminalstücke und später noch zwei schwierigere Schauspiele eingeführt. Dies alles war natürlich nicht im Alleingang möglich. Die freundschaftliche Zusammenarbeit mit Prof. Jörg Heyer, dem damaligen Leiter der Musikschule, mit Dr. Henning Wicht, dem stellvertretenden Intendanten des Hessischen Rundfunks (HR), mit Prof. Herbert Heckmann, dem Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, und Dr. Karl Corino, dem Leiter der HR-Literaturabteilung, sowie hilfreichen Mitbürgern der Stadt (unter anderem Heide Herzog und Klaus Rother) brachte immer wieder gute Ideen und weiterführende Gedanken ein.
Identifikation
Mitte der 80iger Jahre erfolgte dann der Ankauf der „Alten Mühle“. Sie wurde für rund 10 Millionen Mark zum Kulturzentrum ausgebaut, hat Theater- und Kinofreunden schon viel Freude gebracht. Besonders wichtig war, dass die Musikschule hier Platz fand. Als 1986 der damalige Bürgermeister seiner Fraktion den Plan vortrug, Burgfestspiele ins Leben zu rufen, erklärt man ihn reif für die Klapse. Dank der Hilfe des legendären Blitz-Tip Gründers Horst Vatter konnten die 150 000 Mark für die erste Aufführung unter Regisseur Bodo Breck aufgebracht werden. Dank fleißiger Mitarbeiter, wie Claus-Günther Kunzmann, heutiger Intendant der Festspiele und spätere Leiter der Kulturabteilung der Stadt, sowie Bernd Wolf von den Stadtwerken kam die erste Aufführung auch tatsächlich zustande.
Wer konnte ahnen, welch fulminanten Aufstieg die Festspiele nehmen sollten und wie fest sie im Bewusstsein der Bad Vilbeler verankert sein würden. Die Identifikation mit der Stadt war endgültig hergestellt. Und das mit einer Ausstrahlung des sich Wohlfühlens.
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* Günther Biwer war von 1980 bis 2004 Bürgermeister von Bad Vilbel und ist Ehrenbürgermeister dieser Stadt. Diesen Beitrag verfasste er exklusiv für den „Bad Vilbeler Anzeiger“ für diese Festausgabe mit einer 28 Seiten umfassenden Sonderbeilage anlässlich der Eröffnung der „Neuen Mitte“.