Am 31. Oktober war Reformationstag. In der Christuskirche haben wir das groß gefeiert. Es ist der Tag, an dem wir an den Thesenanschlag Martin Luthers vor fast 500 Jahren erinnern. Wie stellen wir uns das eigentlich in unserem Kopf-Kino vor, was damals passiert ist? Vielleicht sieht es in Ihrer Fantasie ja auch so aus: „An einem windigen Samstag vor Allerheiligen ging der junge Professor in der Dämmerung vom Schwarzen Kloster zur Schlosskirche, um dort das lateinisch geschriebene Thesenplakat in angemessener Höhe mit einem Hammer eigenhändig an die nördliche Eingangstür zu schlagen… Schmunzelnd betrachtet er sein Werk, wissend, dass er die katholische Kirche damit zum Wanken bringen wird… Triumphaler Augenblick der Weltgeschichte…“
Für die Protestanten gehört diese Episode zu den Gründungsdaten ihrer Kirche. Und irgendwie finde ich es auch schön, mir so eine Szene als Ur-Moment der Evangelischen vorzustellen. Aber die historische Forschung weiß schon lange: In Wirklichkeit ist das wohl nie so gewesen. Zum einen gibt es keinerlei Augenzeugenberichte über eine solche Aktion. Und dabei gibt es aus jener Zeit und dem Umfeld des Reformators unendlich vieles, was notiert, mitgeschrieben und weitergereicht wurde!
Zum anderen handelt es sich bei den 95 Thesen eigentlich um die Grundlage einer öffentlichen Disputation, einer gelehrten Fachdiskussion, die zugleich eine Prüfung für Studenten darstellte. Der Dienstweg für solche Veröffentlichungen sah vor, dass die Thesen über den Schreibtisch des Universitäts-Dekans gingen, der sie in den Druck gibt, damit sie dann vom Boten (!) an die hölzernen Kirchentüren (damals eine Art „schwarzes Brett“) geheftet werden können mit einem Hinweis auf Ort und Uhrzeit der geplanten Diskussions-Veranstaltung. Und zuletzt gilt: Luther wollte mit seinen Thesen gar keine Revolution anzetteln. „Es war weder mein Plan noch meine Absicht, sie großartig zu veröffentlichen. Im Gegenteil, ich wollte mich zunächst nur mit einigen Wenigen hier darüber austauschen“, schreibt er selbst.
Den „triumphalen Augenblick der Weltgeschichte“ hat es so, wie sich ihn viele gern vorstellen, wohl nie gegeben. Aber die reformatorische Bewegung, die ihren Ausgang in den 95 Thesen Luthers hat, die gibt es, und sie hat das Gesicht Europas verändert. Von ihr ausgehend wurde deutlich: Jeder Mensch kann einen direkten Zugang zu Gott haben, ohne dass ein Priester vermitteln muss. Jeder Mensch ist seinem eigenen Gewissen und der Bibel als Autorität verpflichtet, nicht dem Papst oder einem Bischof. Und jeder Mensch kann frei sein von allen Bevormundungen, solange er sich getragen weiß in Gott.
Die Freiheit, die Luther meinte, prägt unser Land bis heute, unsere Presse, unsere Wissenschaft, unser Verständnis von Religion und Gesellschaft. Und das ist, Thesenanschlag hin oder her, wirklich ein Grund, groß zu feiern – heute, zum 500sten Jubiläum in zwei Jahren und an jedem neuen Tag.
Ihr Pfarrer Ingo Schütz
Ev. Christuskirchengemeinde
Bad Vilbel