Die 80 Jahre, die er am heutigen Donnerstag, 7. März, vollendet, sieht man Rafael Zur nun wirklich nicht an. Und die Hände in den Schoß gelegt hat er schon gar nicht. Die Häuser in der Büdinger Straße mit 24 Wohneinheiten und andere Anwesen wollen verwaltet sein.
Bad Vilbel. Seit über zwanzig Jahren bastelt Rafael Zur an einem Buch über sein bewegtes Leben und jetzt, mit 80, will er es doch noch vollenden. 200 Seiten sind schon geschrieben, das Gerüst steht. Jetzt gilt es Details auszuarbeiten. Dass das Werk so einigen Sprengstoff enthält, liegt bei diesem streitbaren und intimen Kenner der Bad Vilbeler Verhältnisse, insbesondere auch der Vermögensverhältnisse, auf der Hand.
Zur leugnet nicht, dass manche ihn für ein bisschen verrückt halten. Am Ende der Büdinger Straße gehörten ihm von Vatersseite nur eine verrottete Tankstelle mit einem verwüsteten Grundstück. Klar war der benachbarte Brunnenbetrieb an dem Grundstück interessiert und bot eine satte halbe Million. Zur wollte aber das Doppelte. Der Deal platzte. Die Gegenseite schüttelte den Kopf. Zur baute mehrgeschossige Wohnungen und verkaufte sie. So kam er wohl auf diese Weise zu seinen Kosten.
Rafael Zur ist am 7. März 1933 geboren. Der Großvater stammte ursprünglich aus Thüringen und war im rumänischen Moldawien reich geworden. Er wurde 1907 als Jude ermordet. Der Vater mit dem Namen Krasnez musste 1941 für die Rumänen in den Krieg. Rafael kam in ein Heim, wo man ihm mangels Unterlagen den Namen Ciuraru gab. Dass dies ein christlicher Name war, rettete ihn und seinen Bruder auf der Flucht im Versteck an der ungarischen Grenze das Leben, bis er als Elfjähriger als Jude denunziert wurde. Er fand in Ungarn mit Hunderten Juden in einer Synagoge Zuflucht. Nach einer Odyssee über Debreczin und Linz landete er schließlich nach der Befreiung Österreichs durch die US-Amerikaner und einer weiteren Irrfahrt über Salzburg im Flüchtlingslager in Frankfurt-Zeilsheim.
In einer Synagoge im Frankfurter Sandweg bekam er die Bar Mitzwa, der Entsprechung der protestantischen Konfirmation. Völlig ab-gemagert und krank kam dann auch die Mutter nach Zeilsheim, die später ein Jahr lang in Mannheim im Krankenhaus kuriert wurde. Rafael Zur hatte wenig Lust zur Schule zu gehen und schlug sich durch, etwa mit Wein, den er mit anderen Jugendlichen in der Berger Straße geklaut hatte. Als der Vater in Lampertheim bei einem Bäcker Arbeit fand, stabilisierte sich der Junge. Noch heute zeigt er stolz sein Patent als Maschinist aus dem Jahr1948 vor. Seine weiteren Lebensstationen waren 1951 Israel, das er mit der Familie über Frankreich und ein Schiff von Marseille aus erreichte. Der Vater hatte Goldstücke, die in einem Bohrloch in vier massiven Tischbeinen verborgen waren, retten können und war so in der Lage, damit nahe dem Kibbuz Girvat Brener eine Existenz zu gründen.
Rafael ging 1953 zum Militär und diente dort bis zum Beginn des Jom-Kippur-Kriegs. Über seinen Militärdienst und geheimdienstliche Aktivitäten will er nichts erzählen. Der berühmte Ariel Sharon, Politiker, General und Ministerpräsident, war jedenfalls sein Ausbilder. Der Kriegsausbruch, der die Israeli am 6. Oktober 1973 unter zunächst hohen Verlusten überrascht hatte, „der hat mich fertig gemacht“. Zur nahm sich langjährigen „Urlaub“ und wurde ab 1976 endgültig in Bad Vilbel heimisch. Nach dem Krieg hatte er von 1973 bis 1975 noch an einer Universität in Israel das Diplom in Wirtschaft, Politik und Verwaltung erlangt.
In Bad Vilbel hat er von 1980 bis 1988 ein Unternehmen mit fünf Mietwagen und acht Taxen betrieben und in dieser Zeit 300 Studenten Arbeit gegeben. Zur zahlte per Kilometer. Zur hat sich seit Beginn der 80er Jahre in der SPD engagiert, verstanden die sich doch „als die Guten“, im Unterschied zu den Schwarzen. Zur sieht das heute et-was differenzierter.
Immerhin erlebte er Vilbels Sozialdemokraten ab 1983 für zwanzig Jahre als stellvertretender Par-teivorsitzender und in zehn Jahren im Stadtparlament hautnah mit allen ihren Stärken und Schwächen.
Rafael, der seinen Namen von dem unaussprechlichen Ciuraru in Zur geändert hat, der 1957 seine Frau Hanna geheiratet und mit ihr einen Sohn und zwei Töchter hat, hält sich die Gründung der Jüdischen Gemeinde und die Anregung zur Aufarbeitung der jüdischen Geschichte Bad Vilbels durch die Historikerin Berta Ritscher zugute. Er habe den jüdischen Friedhof wieder in Ordnung gebracht, ein Denkmal an den Pogrom von 1938 am Alten Rathaus errichtet, beansprucht die Urheberschaft für den Vilbus und die Gründung des Gewerbevereins.
Ein politisches Ziel hat er noch, die Würdigung des jüdischen Schulleiters Albert Chambré. Nach ihm sollte deshalb der Platz der Neuen Mitte benannt werden.