„Wo blicken Sie eigentlich hin, wenn Sie über das Seil gehen?“ So wurde ein Drahtseilakrobat einmal gefragt, der in luftiger Höhe ohne Sicherheitsnetz von einem Hochhaus zum anderen ging. „Nun“, gab dieser in aller Ruhe zur Antwort, „mit den Füßen stehe ich fest auf dem Seil. Und mit den Augen bin ich auf den Horizont mit dem Ziel konzentriert.“ Das ist bemerkenswert. Unsereiner, wenn er sich denn überhaupt ein paar Schritte auf einem Drahtseil bewegen sollte, würde bei einem Schrittversuch ständig mit einem sorgenvollen Blick nach unten beschäftigt sein. Ich denke, das ist ein gutes Bild für unseren Lebensweg insgesamt, der doch all zu oft einem Drahtseilakt gleicht. Angesichts der vielen tagtäglich neuen Herausforderungen der Lebensbewältigung in unseren Beziehungen in Partnerschaft und Familie als auch am Arbeitsplatz stellt sich die Frage: Wie schaffe ich das alles? Wie komme ich da gut und sicher auf die andere Seite? Wie gelingt mir, was ich mir an Zielen vorgenommen habe? Der Beter in Psalm 25 Vers 15 hat uns eine Erfahrung weitergegeben, die für ihn beim Drahtseilakt des Lebens scheinbar doch sehr Erfolg versprechend gewesen ist: „Meine Augen sehen stets auf den Herrn“. Fest mit den Füßen auf dem Boden der Tatsachen bewegt er sich sicher nach vorne, weil er den Blick eines ungetrübten Glaubens hat: Gott ist bei mir. Gott stärkt mir den Rücken. Gott blickt mich in Liebe an. Martin Luther hat den Glauben als eine Kraft umschrieben, die bewirkt, was man ihm zutraut: „Dir geschehe, wie du glaubst“. Das ist anstößig und provokativ zugleich. Mit unserer Anfangsgeschichte in Verbindung gebracht, heißt das: Habe ich das Ziel am Horizont fest im Blick, werde ich auch dort hin gelangen. Das ist mehr als vernünftig. Der Glaubende geht seinen Lebensweg als Drahtseilakt nicht blind, sondern sehenden Auges. Entscheidend ist, auf wen er sieht. Deshalb: bei allen Problemen, die ihm auch vertraut sind, lebt er doch mit einer Zuversicht, die mit der alten Verheißung zu tun hat: „Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft“ (Jesaja 40,31).
Pfarrer Matthias Gärtner,
Ev. Kirchengemeinde Dortelweil