Eines Tages kamen einige Menschen zu einem Mönch. Sie fragten ihn: Was für einen Sinn siehst du in deinem Leben der Stille und des Gebets? Der Mönch war mit dem Schöpfen von Wasser aus einem tiefen Brunnen beschäftigt. Er sprach zu seinen Besuchern: „Schaut in den Brunnen. Was seht ihr?“ Die Leute blickten in den tiefen Brunnen: „Wir sehen nichts!“
Nach einer kurzen Weile forderte der Mönch die Leute wieder auf: „Schaut in den Brunnen! Was seht ihr jetzt?“ Die Menschen antworteten: „Wir sehen unser Spiegelbild.“ Der Mönch sagte: „Seht, als ich vorhin Wasser schöpfte, war das Wasser unruhig. Jetzt ist das Wasser ruhig. Das ist die Erfahrung der Stille und des Gebets: Man sieht sich selber! Und nun wartet noch eine Weile.“
Nach einer Weile sagte der Mönch erneut: „Schaut jetzt in den Brunnen. Was seht ihr?“ Die Menschen schauten hinunter: „Nun sehen wir die Steine auf dem Grund des Brunnens.“ Da erklärte der Mönch: „Das ist die Erfahrung der Stille. Wenn man lange genug wartet, sieht man den Grund aller Dinge.“ Diese kleine Geschichte zeigt mir, wie wichtig die Stille für uns Menschen ist. Viele christliche Gemeinden werden ab dem Advent 2009 ein „Jahr der Stille“ beginnen. Auch wir in der Christuskirchengemeinde haben uns dazu entschlossen. Denn Stille tut gut. Wir sind umgeben von Lärm, den wir oft kaum noch bewusst wahrnehmen. Gibt es überhaupt noch Autofahrten ohne Radio? Kaufhäuser ohne Hintergrundmusik? Eine Kur ist dringend nötig, denn Stille tut gut – nicht nur den Ohren. Stille tut auch unserer Seele gut, weil wir in der Stille auf die Fragen und Sehnsüchte unserer Seele aufmerksam werden. Weil wir in der Stille neu Gottes Stimme hören können.
Aber es ist nicht leicht, sich auf die Stille einzulassen. Sie widerstrebt nämlich unserer permanenten Geschäftigkeit. Wir sind lieber damit beschäftigt, einen Eimer Wasser nach dem anderen aus dem Brunnen zu schöpfen. Am Ende schauen wir befriedigt auf ein Tagewerk, aber wir haben keine Zeit gehabt, über den Sinn der Tätigkeit nachzudenken. Geschweige denn, darüber nachzudenken, was uns wirklich wichtig ist. Vielen Menschen erscheint Stille einfach leer und langweilig. Und es gibt kaum etwas, was wir Menschen des 21. Jahrhunderts so schwer ertragen können wie Leere und Langeweile. Unzählige Programme leben davon, den Menschen vor den Schrecken der Langeweile zu bewahren. Wer die Stille-Kur macht, wird also auch Entzugserscheinungen erleben. Wir sind längst abhängig vom selbst erzeugten Lärm, von unserer Geschwätzigkeit und Geschäftigkeit. Diese Kur wird uns gut tun, aber sie wird uns auch etwas abverlangen. Aber wenn wir uns auf die Stille einlassen, dann werden wir anders in den Alltag zurückkehren: ein wenig kräftiger, klüger, klarer, rücksichtsvoller, einfühlsamer und zufriedener.
Pfarrer Dr. Jens Martin Sautter
Ev. Christuskirchengemeinde