Bad Vilbel. Isil Yönter ist seit 2015 Vorsitzende des Bad Vilbeler Ausländerbeirates. Dessen zentrale Aufgabe ist es, die kommunalen Organe in Fragestellungen zu beraten, die in besonderer Weise die ausländische Bevölkerung betreffen. Im Interview spricht sie über den geringen Bekanntheitsgrad des Gremiums, aktuelle Konflikte und welche Rollen dabei die Bildungseinrichtungen spielen. Die Fragen stellte Patrick Eickhoff.
Frau Yönter, Sie haben 2015 den Ausländerbeirat der Stadt wieder mitaufgebaut. Bei einer Wahlbeteiligung von nur etwa acht Prozent: Mal ganz provokant gefragt: Braucht es den Ausländerbeirat überhaupt?
Aber ja. In meiner Studienzeit habe ich auch gedacht, dass es Ausländerbeiräte nicht braucht. Meine Meinung hat sich geändert, als ich merkte, dass Migranten keine Lobby oder Sprachrohr haben. Wir können in vielen Bereichen angefragt und tätig werden. Sei es in interkulturellen Konflikten oder im interkulturellen Austausch in Kitas und Schulen. Ich merke aber, dass wir häufig nicht hinzugezogen werden, auch nicht durch kommunale Organe. Das ist sehr schade, denn wir haben eine unglaubliche Sprachenvielfalt in unserer Gruppe.
Wieso werden Sie denn nicht hinzugezogen?
Bei Flüchtlingsthematiken ist das bewusst so. Wir haben eine aktive Flüchtlingshilfe, das ist deren Arbeitsgebiet, da wollen wir uns kooperierend ergänzen, nicht gegenseitig blockieren. Schulen werden zwar teilweise von sich aus aktiv und kommen für Elterngespräche auf uns zu, aber der eigentliche Bedarf ist sicher mehr. In unserer letzten Sitzung haben wir beschlossen, ein Info-Schreiben auf den Weg zu bringen, um auf uns aufmerksam machen. Die hauptsächlichen Anfragen sind meist telefonische und betreffen individuelle Probleme.
Ist das Gremium zu unbekannt?
Es müsste bekannter sein. Im Ausländerbeirat beschäftigt uns diese Thematik sehr. Was wir tun können, um besser wahrgenommen zu werden. Die Beiräte sind Mitglieder im Landesausländerbeirat (agah). Der Bekanntheits- und Nutzungsgrad ist regional sehr unterschiedlich. Auch dort befassen wir uns mit der möglichen inhaltlichen Reformierung der Beiräte.
Wieso?
Ich war früher der Meinung, wer sich politisch engagieren möchte, kann sich in bestehende Strukturen zum Beispiel in die Parteienlandschaft integrieren. Aber so leicht ist diese Thematik nicht. Politik bereitet Migranten Unbehagen. Und Ehrenamt ist nicht selbstverständlich. Wer das System womöglich nicht kennt oder voll erwerbstätig ist, wird sich gut überlegen ob und wieviel Freizeit man in Abend- oder Wochenendstunden investieren möchte. Was die Migrationsthematik anbelangt, hatten wir in Deutschland von 2005 bis 2008 eine echte Aufbruchstimmung. Die Resultate der Demokratie- und Friedenserziehung der 80er Jahre haben gefruchtet. Es gab spürbar weniger Diskriminierung und ein größeres Wohlwollen im Umgang miteinander. Irgendwann gab es einen Bruch und ich versuche für mich herauszufinden, wann und wodurch der eigentlich stattgefunden hat.
Mit welchen Thematiken wenden sich die Menschen an Sie?
Die sind ganz unterschiedlich. Wir versuchen aufzuklären und Orientierung zu geben. Kürzlich rief mich jemand an, der einen Konflikt mit der Polizei hat. Ich werde mich mit ihm treffen, um die Unterlagen zu sichten. Dann sehen wir weiter. Ein anderer Mann, der seit 15 Jahren hier lebt und arbeitet, kontaktierte mich, weil er schon sehr lange auf die Familienzusammenführung mit seiner Ehefrau wartet. Bei der Sichtung der Unterlagen kam heraus, dass er noch gar keinen Antrag gestellt hatte.
Sind das die Einsatzgebiete des Ausländerbeirates?
Wir geben Tipps. Wir erklären, wie Deutschlands Systeme und Ämter funktionieren. Wir machen keine Rechtsberatung. Es geht darum, aufklärend zu wirken, zu beraten oder Brücken zu bauen. Zum Beispiel: Wo kannst du dich hinwenden? Was müssen oder können die nächsten Schritte sein? Aber es gibt auch Situationen, in denen ich die Menschen an ihre Pflichten und Selbstverantwortung erinnere. Wir nehmen ihnen nichts ab, sie müssen selbst handeln.
Welche Pflichten sind das?
Da fallen mir zwei Beispiele ein. Eine Mutter hat den Verdacht geäußert, dass ihr Kind schlechte Noten bekommt aufgrund der Herkunft. Man muss vorsichtig sein mit diesen Zuschreibungen. Wir wissen von Biografiestudien, die das nachweisen. Aber genauso gut kann es sein, dass das Kind Leistungen nicht erbringt oder erbringen kann. Wir schauen uns sensibel an womit wir es tatsächlich zu tun haben und überlegen mit der Mutter, was sie oder ihr Kind tun können oder ob wir aktiv werden, wenn sich der Verdacht bestätigt.
Und das andere Beispiel?
Facharzttermine. Da wird sich beschwert, dass man als »Ausländer« drei bis vier Monate auf einen Facharzttermin warten muss und der deutsche Nachbar in drei Wochen einen bekommen hat. Der Verdacht bezieht sich darauf, diskriminierend behandelt zu werden. Dann sind Aufklärungs- und Vermittlungsarbeit gefragt. Vielleicht ist der Nachbar privat versichert. Manchmal hilft der Hinweis, dass wir alle lange Wartezeiten haben, auch deutsche Patienten. Gefühlte Benachteiligung, die zu Pauschalisierung führen, sind nicht gut.
Sie sprechen viel von Aufklärungsarbeit. Ist das etwas, was Ihrer Meinung nach zu wenig gemacht wird?
Definitiv. Lehrkörper berichten von Verrohung im Schulalltag. In meiner Schulzeit Anfang der 70er Jahre gab es Friedens- und Demokratieerziehung. Wir haben in der Schule echte Diskussionskultur gelernt. Wichtige Gesellschafts- und Konfliktfragen waren Bestandteil von Unterricht. Mir scheint, dass das ausgelagert wurde. Schule muss in der Lage sein, auch aktuelle Geschehnisse aufzuarbeiten.
Ein aktuelles Beispiel ist der israelisch-palästinensische Konflikt. Wie ist Ihre Meinung dazu?
Das spricht mich persönlich sehr an. Ich bin türkischstämmige Muslimin. Ich habe eine ganz klare Haltung zu Israel. Der siebte Oktober (Anm. d. Red.: Angriff der Hamas auf Israel) war ein Verbrechen an der Menschlichkeit. Ich trauere, ich bin fassungslos, ich bin wütend. Der blutrünstige Terror ist mit gar nichts zu rechtfertigen oder zu relativieren. Auch nicht mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt.
Glauben Sie, dass diese Auseinandersetzung auch bei denen fehlt, die beispielsweise auf Demonstrationen ihre Solidarität mit dem Schwenken von Palästina-Flaggen zeigen wollen?
Ich denke schon. Wo ist die Empathie, wo die Betroffenheit geblieben? Ich hätte mir als Erstreaktion ein Innehalten und Mitgefühl mit den Opfern und ihren Angehörigen gewünscht. Nicht das Verhalten auf Grundlage der vermeintlichen Religionszugehörigkeit. Mediale Bilder zeigen viele junge Menschen. Ich wette, die meisten sind in Deutschland geboren. Viele wissen überhaupt nicht, welche 75-jährige Historie hinter diesem Nahostkonflikt steckt. Das gilt aber auch für viele andere Brandherde im Nahen Osten. Hörensagen, Propaganda, Hass schürende Internetvideos und Symbolik bestimmen die sogenannte Meinungsbildung. Das ist toxisch. Wir sind eine tolerante Gesellschaft, aber wir haben uns inhaltlich nie wirklich damit auseinandergesetzt.
Wie meinen Sie das?
Da sind wir wieder bei Bildung und Bildungseinrichtungen. Wir werden nicht friedlich miteinander umgehen können, wenn wir nicht von klein auf die Grundlagen der Demokratie, des Verhandelns und Diskussionskultur lernen. Auch Wissenvermittlung, Aufklärung sowie Kompetenz im Umgang mit Medien gehen Hand in Hand.
Welche Probleme sehen Sie aktuell in Bad Vilbel?
Zwei große Bereiche sind Wohnen und Arbeiten. Aber diese stehen für ganz Deutschland. Gegen fehlenden bezahlbaren Wohnraum können wir als Ausländerbeirat nichts tun. Menschen möchten von uns Wohnungen vermittelt bekommen, weil ihre Bewerbungen nicht fruchten. Ihr Verdacht, dass es mit ihrer Ethnie bzw. Herkunft zu tun hat, können wir nicht gänzlich ausräumen. In letzter Zeit verstärkt sich zudem mein Gefühl, dass der Mindestlohn bei Erwerbstätigen unterschritten wird, in dem sie mehr arbeiten sollen. Ich muss vorsichtig sein, wie gesagt, es ist nur ein Gefühl aus vielen Gesprächen, aber das beschäftigt uns, wenn solche Vorkommnisse sich häufen.
Das Leitbild des Ausländerbeirates lautet »Brücken bauen – Vielfalt friedlich, solidarisch und respektvoll leben«. Zielsetzungen des überethnisch, überparteilich und überkonfessionellen Gremiums sind: partnerschaftliche Zusammenarbeit in der Kommune, lebendige Demokratie stärken, gesellschaftliche und rechtliche Situation der Migrantinnen und Migranten verbessern, Teilhabe und Integration fördern sowie Diskriminierung und Rassismus entgegenwirken.
Sprechstunden für Migrantinnen/Migranten und neu Zugewanderte bietet der Ausländerbeirat am 1. und 3. Dienstag des Monats im Haus der Begegnung, 1. Obergeschoss, Marktplatz 2) von 18 bis 19.30 Uhr an. Eine telefonische Terminvereinbarung ist gewünscht.
Von Patrick Eickhoff