Über den Einwohnern von Karben hängt ein Damoklesschwert: Schon bald könnten ihnen hohe Rechnungen ins Haus flattern, wenn die Straße vorm Grundstück saniert wird. Die Stadt will das verhindern – und klagt deshalb gegen das Land. Nun wird der Fall vor dem Verwaltungsgericht Gießen verhandelt. Es deutet sich nichts Gutes an.
Karben. Sie können Menschen belasten, sogar in den Ruin treiben. Familien müssen sich verschulden, Senioren längst abbezahlte Häuschen belasten. Rechnungen für Straßensanierungen sind in Deutschland für viele Menschen ein Graus. Und bittere Realität.
Karbens Einwohner sind bisher um diese Straßenbeiträge herum gekommen. Zwar gibt es in der Stadt seit Jahrzehnten eine Satzung dafür. Doch die Stadt kassierte nie: Die oft millionenschweren Projekte finanzierte sie aus dem normalen Haushalt. Die Bürger zahlten indirekt über die Grundsteuer.
So soll es auch bei den nächsten Sanierungen laufen. Sie stehen für die Lohgasse in Klein-Karben an und – ein Riesenprojekt – die Ortsdurchfahrt in Groß-Karben, von der Bahnhofstraße über die Heldenberger und die Ludwigstraße bis zur Burg-Gräfenröder Straße. Ob die Anwohner diesmal horrende Rechnungen erhalten, darüber entscheidet das Verwaltungsgericht Gießen.
Alle anderen spuren
Dort klagt die Stadt gegen das Land Hessen in „Person“ der Kommunalaufsicht. Ihr steht der Wetterauer Landrat Joachim Arnold (SPD) vor. Er hatte im Frühjahr 2014 den Beschluss des Stadtparlaments kassiert, die Satzung für die Straßenbeiträge aufzuheben. Begründung: Die Stadtfinanzen seien defizitär, deshalb müsse Karben jede Einnahmemöglichkeit ausschöpfen – auch Straßenbeiträge. Falsch, findet die Stadt: Karben wirtschafte mittelfristig im Plus und brauche diese Einnahmen nicht. Daher gelte der Zwang nicht zu einer Erhebung von Straßenbeiträgen.
Schnell wird der Streit zur Klage. Trotz intensiver Verhandlungen im Vorfeld zwischen Stadt und Land sitzen sich die Kontrahenten am Dienstagvormittag in Gießen vorm Verwaltungsgericht gegenüber: Bürgermeister Guido Rahn (CDU), Karbens Verwaltungsleiter Hans-Jürgen Schenk und Kommunalrechtsexperte Ben Risch vom Hessischen Städtetag als Anwalt auf der einen Seite. Ernst Meiß, der Leiter der Kommunalaufsicht, als Vertreter des Landes, auf der anderen.
Die Standpunkte seien eindeutig, sagt Richter Rainer Lambeck. Allseitiges Nicken. „Sie hatten 2014 einen Jahresfehlbetrag von 675 000 Euro“, erinnert Ernst Meiß die Karbener. „Was wollen Sie?“
So einfach sei das nicht, widerspricht Experte Risch. Laut Gesetz „soll“ eine Kommune alle Einnahmemöglichkeiten nutzen. Dies sei somit keinesfalls eine Muss-Bestimmung. Zu dieser werde die Empfehlung nur, wenn eine Kommune dauerhaft im Minus arbeite. Genau dort sieht Ben Risch den Unterschied etwa zu Bad Vilbel und Bad Nauheim: Diese Städte wirtschafteten langfristig im Minus, Karben jedoch habe „eine andere wirtschaftliche Potenz“.
Schon 2014 sei absehbar gewesen, dass die Stadt auf lange Sicht gute Zahlen schreibe. Damals sei mit einem Minus für 2014 von nur knapp 300 000 Euro gerechnet worden, jedoch durchgehenden Überschüssen ab 2015. So sei der Haushaltsausgleich in Karben „nur geringfügig oder kurzfristig“ nicht erfolgt, sagt Ben Risch – und diese Ausnahme lasse das Land zu.
Kein Defizit
Das sieht Ernst Meiß anders. Straßenbeiträge seien eine Pflicht-Einnahme. „Da haben wir inzwischen alle Kommunen in der Wetterau eingefangen“ – außer Karben. „Sie sind die letzten, die sich noch streiten.“ Mit gutem Grund, findet Bürgermeister Rahn: „2015 erzielen wir ein Plus von 200 000 Euro, in den Folgejahren erhebliche Überschüsse.“ Von Defizit keine Spur.
Noch perfider: Über Jahrzehnte habe das Land von der Stadt nie gefordert, Straßenbeiträge zu kassieren, als diese noch massive Defizite einfuhr. „Aber jetzt, da wir Überschüsse erzielen, sollen wir auch noch die Beiträge kassieren? Das“, sagt Guido Rahn, „versteht keiner.“
Richter Lambeck warnt: Die heutige Lage könne er nicht berücksichtigen. „Es geht um den Zeitpunkt des Erlasses der Beanstandung“, also den März 2014. Sein Urteil will der Richter in den nächsten Tagen schriftlich verkünden. Die Entscheidung sei wichtig als Richtschnur für sehr viele Kommunen, weiß Risch. Er hofft, dass eine Unklarheit beseitigt wird. Da ist sich Guido Rahn jedoch nicht sicher. Er fragt den Richter: Wenn das Urteil die Lage von 2014 betrifft, muss das Stadtparlament dann die Satzung jetzt auf ein Neues streichen, weil sich die finanzielle Situation der Stadt verbessert hat? „Ja“, bestätigt Lambeck.
„Dann werden wir das auch erneut beanstanden“, kündigt Ernst Meiß sofort an. „Dann müsste geklärt werden, wie mit nicht defizitären Kommunen zu verfahren ist.“ Sprich: Die nächste Klage scheint programmiert. Und womöglich eine lange Hängepartie ausgerechnet für die sparsamen Karbener. (den)
Einmalig oder jährlich
Laut einer Leitlinie des hessischen Finanzministeriums von 2010 sind Straßenbeiträge für Kommunen, die im Minus wirtschaften, ein Muss. Wird eine Straße saniert, legt die Stadt die Kosten auf die Anlieger um. Der Anliegeranteil richtet sich danach, wie stark die Straße vom Durchgangsverkehr genutzt wird. Alternativ können Kommunen seit 2013 jährliche, wiederkehrende Straßenbeiträge erheben. (den)