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Schein und Sein in Frage stellen

Ausdrucksvolle Szene: Die Angst (Annika Hofmann mit Umhang) sucht alle heim und lässt den Märchenfiguren einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Foto: Christine Fauerbach
Ausdrucksvolle Szene: Die Angst (Annika Hofmann mit Umhang) sucht alle heim und lässt den Märchenfiguren einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Foto: Christine Fauerbach

Karben. Mit Ovationen feierte das Premierenpublikum die 43 Darsteller auf der Bühne, die drei Mitglieder des Kreativ-Teams sowie auch alle Profis hinter der Bühne für einen gelungenen Theaterabend. Das Berufsbildungswerk Südhessen (bbw) schenkte sich und allen Theaterbesuchern mit der Inszenierung des kulturpädagogischen Theaterstücks »Vom Licht der Dunkelheit – 40 allein im Wald« das schönste Geschenk zum 40-jährigen Bestehen der Einrichtung.
In einen fantastisch anmutenden Zauberwald verwandelt sich die Aula des Berufsbildungswerks Südhessen bei den Inszenierungen des kulturpädagogischen Theaterstücks mit dem Titel »Vom Licht der Dunkelheit – 40 allein im Wald«.
Vom Umgang mit
Leistungsdruck

Auf der Bühne und im Zuschauerraum tummeln sich allerlei bekannte Märchenfiguren, die augenzwinkernd aufregende Geschichten erzählen. Allen gemeinsam ist, dass sie nach ihrer Kündigung durch das Management in Gestalt der bösen Stiefschwestern Anastasia (Dagmar Becker) und Drizella (Marlies Pierce) auf Identitäts-, Sinn- und Jobsuche sind.
Je nach Veranlagung reagieren und agieren die fantastischen Figuren, die der Wirklichkeit und Normalität entrückt sind, auf die ihre Existenz und ihren bisherigen Lebensinhalt bedrohende Entscheidung. Dabei wird hinterfragt, wer oder was das Verhalten der Figuren beeinflusst, wie mit Leistungsdruck umgegangen wird, was eine gute Arbeit eigentlich ausmacht und was man tun würde, wenn man genug Geld hätte.
Oft fehlt den meisten im Hamsterrad aus ständigem Stress und Erfolgsdruck stehenden Menschen die Zeit, sich in Ruhe über Erlebtes und ihre Erwartungen klar zu werden, um ihren eigenen Weg selbstständig zu gestalten. Sie reagieren, agieren aber nicht.
Selbst noch nach der erhaltenen Kündigung verfallen die Märchenfiguren, sei es aus Hilflosigkeit, aus Angst, die (Annika Hofmann) verkörpert, oder vermeintlicher Perspektivlosigkeit in tradierte Verhaltensmuster zurück, wenn eine plötzliche Veränderung in ihr Leben tritt. Das wird versinnbildlich mit dem in einer Szene umgesetzten Aschenputtel-Zitat: »Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen.« Zwar sortiert in der frei erfundenen Geschichte des Open Mind Ensemble (OME) nicht Aschenputtel (Peter Seip) die Linsen, sondern Rotkäppchen (Kristina Markovic), was aber an der Situation nichts ändert.
Wie verhalten sich die Betroffenen? Schließen sie andere aus, um in den Genuss von Privilegien zu kommen? Resignieren sie oder kämpfen sie für ihre Rechte? Bedeutet die Kündigung für sie nur das Ende einer Ära oder den Beginn eines neuen Kapitels? Begreifen sie wie der Zauberspiegel (Anita Zang) ihre Kündigung als Befreiung und neue Chance oder flüchten sie aus der Realität mit Alkohol wie der gestiefelte Kater (Sven Schreiter) oder in Drogen wie Rumpelstilzchen (Brita Bielke)? Andere rufen mit Slogans wie »Nieder mit der Königin!« und »Nieder mit dem Manage-ment!« zur Demonstration und Kampf auf.
Aus der Rolle gefallen
Für Abwechslung und Heiterkeit sorgen die 43 aktiven Darsteller zwischen 17 und 79 Jahren, indem sie sozusagen aus ihren Rollen fallen. Und augenzwinkernd mit Märchenklischees und den Erwartungen der Zuschauer spielen. Die Kündigungswelle macht vor keiner Figur halt. Sie trifft die Bösen wie die Königin (Monika Heinz), die Hexe (Lisa Kohl) oder den Wolf (Lara Göhlert) ebenso wie den Erzähler (Leroy Perea), den Priester Frollo (Meike Joosten) oder die Fee (Nina Schut).
Es darf geschmunzelt werden, wenn ein tiefenentspanntes, kiffendes Rumpelstilzchen (Brita Bielke) auf drei voreingenommene, missgünstige Arbeitsvermittlerinnen trifft. Verkörpert werden diese von bösen Feen, genannt Maleficent-Beraterinnen (Johanna Horn, Sylvia Kelly, Natalie Weidenmüller). Viel Geduld abverlangt wird Ausbilderin Frau Holle (Annette Simonsmeier), die ihrem lustlosen und am richtigen Schütteln des Kissens nicht interessierten Azubi (Malina Rommel), immer wieder zeigt wie es geht, damit es auf der Erde schneit.
Werben für
mehr Toleranz

Mit Witz und Komik greifen die Regisseure des OME, Heike Englisch und Oliver Becker, die ernsten Themen ihres frei erfundenen Stückes auf, indem sie zeigen, was passiert, wenn nichts mehr so ist, wie es einmal war. Sie setzen Zeichen gegen Ausgrenzung, stellen Schein und Sein in Frage, werben für mehr Toleranz und Akzeptanz, indem sie auf die Vielfältigkeit der Menschen hinweisen.
Das zahlreiche Publikum war von den Geschichten, welche die fantastischen Figuren, spielend, singend und tanzend erzählten, durchweg begeistert. Das Ensemble und alle hinter den Kulissen Mitwirkende badeten am Schluss in einem Meer aus Applaus und feierten mit den Zuschauern eine gelungene Inszenierung, bei der das Licht der Vernunft die aus Unwissenheit und Angst bestehende Finsternis besiegt.
Von Christine Fauerbach